Mehr zum Thema
RSS-Feed
22.01.2021

Julia Tjus sammelt Botschaften aus dem ganzen Universum

Theoretikerin an der Ruhr-Universität Bochum jagt Teilchen, die von entfernten Galaxien herstammen

2017_xx_xx_tjus_uar_interview_tk_thumbnail.jpg

Prof. Julia Tjus leitet ein Zentrum, das die Spezialisierungen verschiedener Institute im Ruhrgebiet vereint, um Multimessenger-Signale im Universum besser untersuchen zu können. (Bild: Ruhr-Universität Bochum, Kramer)

In den Tiefen des Weltraums herrscht allem Anschein nach Leere. Es gibt keine Luft zum Atmen, und die Materie, die es da draußen gibt, ist zu Sternen und Planeten verklumpt. So scheint es jedenfalls. Allerdings gibt es geladene Teilchen, die von fernen Galaxien ausgesandt werden und so energiereich sind, dass sie den Teilchenstrahlen in Teilchenbeschleunigern auf der Erde ähneln. Und sie sind überall: sie fliegen in alle Richtungen, ihre Bahnen sind manchmal schwer auszumachen und sie bombardieren alles, was ihnen im Weg steht. Das ist die kosmische Strahlung.

Die Theoretikerin Julia Tjus arbeitet daran herauszufinden, was uns diese Teilchen über die Ereignisse, aus denen sie entstanden sind, sagen können. Als Professorin an der Ruhr-Universität Bochum leitet Tjus ein Zentrum, das die Kompetenzen von drei Universitäten im Ruhrgebiet – ihrem Heimatinstitut, der Universität Duisburg-Essen und der TU Dortmund – vereint, um die die Eigenschaften der kosmischen Strahlung auf mikroskopischer Ebene und als Ensemble zu verstehen und dadurch auch ihre Rolle im Kosmos. Kosmische Strahlung besteht aus hochenergetischen, beschleunigten Materieteilchen, die das Universum durchkreuzen. Aufgrund ihrer Arbeit und der ihrer Kolleg:innen denkt Tjus, dass es in den nächsten Jahrzehnten möglich sein kann, die kosmische Strahlung mit ihrem jeweiligen spezifischen Ursprung zu verbinden.

multimessenger-Grafik

Die Botschafter des Universums: kosmische Strahlung manifestiert sich in verschiedenen Teilchenformen, von denen jede Aufschluss gibt über einen Aspekt des kosmischen Ereignisses, wie z.B. einer Supernova, aus dem sie entstanden ist. (Abbildung: Julia Tjus und Lukas Mertens, nach W. Wagner 2004).

„Mit der Kombination aus Beobachtung und ein bisschen Theorie – manchmal mit viel Theorie! – können wir anfangen zu sehen, dass einige dieser kosmischen Teilchen Supernova-Überreste sind, und andere sind Jets, die mit den Zentren von Galaxien in Verbindung gebracht werden“, sagt sie. Nur durch diese Kombination aus Theorie und der Beobachtungen mit verschiedenen Observatorien wird es möglich, dass Physiker*innen kosmische Strahlung zu individuellen Quellen zurückverfolgen.

Die kosmische Strahlung wurde zum ersten Mal von dem österreichischen Physiker Victor Hess gemessen, nachdem er 1912 mit Sensoren Ballonfahrten in großer Höhe unternommen hatte – eine Forschungsarbeit, die ihm 1936 den Nobelpreis einbrachte. Heute wissen wir, dass die kosmische Strahlung aus Protonen oder schwereren Atomkernen besteht, einige davon so schwer wie Eisenkerne, die auf enorme Energien beschleunigt werden. Die Sonne setzt einige dieser Teilchen frei, kann aber nur den niederenergetischsten Teil der kosmischen Strahlung erklären. So wurde beispielsweise festgestellt, dass eines der energiereichsten jemals entdeckten kosmischen Strahlungssignale, das so genannte „Oh-Mein-Gott-Teilchen“, so nahe an der Lichtgeschwindigkeit unterwegs war, dass aus seiner Perspektive die Breite des gesamten Sonnensystems nach der Relativitätstheorie auf etwa 37 km zusammengeschrumpft wäre.

Diese extrem energiereichen Teilchen sind es, die Tjus am meisten interessieren. Die Informationen, die sie mit sich führen, können für unser Verständnis vieler Objekte im Universum, so wie Supernovaüberreste und supermassive Schwarze Löcher, von Bedeutung sein. Aber keine der Signaturen der kosmischen Strahlung auf der Erde ist als Bote leicht zu verstehen.

„Weil die kosmische Strahlung aus geladenen Teilchen besteht, folgen sie den Magnetfeldlinien und bewegen sich nicht in geraden Linien, wie zum Beispiel Licht“, sagt Tjus. „Es kann also schwierig sein, zu erkennen, woher sie kommen.“

Es hilft auch nicht, dass die kosmische Strahlung, die von derselben Quelle kommt, je nach ihren Eigenschaften unterschiedliche Wege nehmen kann. Neutrale Teilchen reagieren nicht auf die elektromagnetischen Felder und zeigen daher auf die Quellen zurück. Das trifft insbesondere auf die Neutrinos und Gammastrahlen zu, die ebenfalls mit der kosmischen Strahlung in Verbindung gebracht werden. Sie entstehen, wenn die beschleunigten Teilchen auf Materie treffen und Teilchen produzieren, die ähnliche Botschaften transportieren: Energie, Quanteninformation, Geschwindigkeit. Noch problematischer sind einzelne freie Elektronen, die aus anderen Reaktionen wie Ionisierung von energetischen Photonen stammen und deren Abstrahlung auf den ersten Blick mit Signalen der kosmischen Strahlung verwechselt werden können.

„Wir müssen in der Lage sein, all diese Botschaften miteinander in Verbindung zu bringen, um den störenden Untergrund vom Signal zu trennen“, sagt Tjus. ,,Hierfür benötigen wir die Theorie – sie hilft uns, die Signale zu verstehen und sie bis zu ihren potenziellen Ursprüngen zurückzuverfolgen.“

Gruppenbild Forschungsgruppe

Das RAPP-Center-Team, mit Tjus vorne rechts. (Bild: RAPP-Center)

Tjus arbeitet mit mehreren Kollaborationen, die Observatorien betreiben, um mit Hilfe der Theorie ihr Potential besser auszuschöpfen. Bodengestützte Telemetrie wie das H.E.S.S.-Teleskoparray (eine Abkürzung für „High Energy Stereoscopic System, aber auch benannt nach Victor Hess) in Namibia wurden für Tjus und ihre Kollegen zu einem Versuchsfeld, auf dem sie ihre Ideen in die Tat umsetzten und begannen, die Signale auf eine sinnvolle Weise miteinander abzugleichen. Observatorien wie H.E.S.S. überwachen die Atmosphäre auf radioaktive Teilchen, die aus einer Wechselwirkung zwischen kosmischer Strahlung und der Atmosphäre stammen. So ist sie bereits seit 2002 am Aufbau und Betrieb des IceCube Neutrino Observatory am geographischen Südpol beteiligt. Die große Aufgabe, die in der Erdatmosphäre produzierten Neutrinos von denen aus dem Kosmos zu separieren, ist der Kollaboration im Jahr 2013 endlich gelungen – seitdem wissen wir, dass im Universum hochenergetische Neutrinos erzeugt werden. Dank der Beiträge aus der Theorie konnten die Physiker:innen mehrere Botschaften miteinander verknüpfen und ihren Ursprung lokalisieren: Im Jahr 2017 wurde erstmals ein Hinweis gefunden, dass dein Gammastrahlungsignal von einem supermassiven schwarzen Loch mit der Neutrinodetektion verknüpft werden kann.

Auch in der Gammastronomie arbeitet Tjus daran, die Theorie zu nutzen um das Cherenkov Telescope Array CTA bestmöglich vorzubereiten, die Quellen besser einkreisen zu können. Mit CTA wird es in Zukunft möglich sein, die Quellen bei bislang unbeobachtet hohen Energien und mit bisher unerreichter räumlicher Auflösung zu messen, so dass die Separation der Signaturen der kosmischen Strahlung von den Elektronen möglich sein kann.

Durch jahrelanges Studium dieser vielgestaltigen Teilchen hat Tjus begonnen, viele verschiedene Bereiche zusammenzubringen, um sie besser zu verstehen. Das Ruhr Astroparticle and Plasma Physics Center RAPP, dessen Direktorin sie ist, befasst sich intensiv mit dem Schnittpunkt zwischen Beschleunigerphysik, Teilchenphysik und Plasmaphysik und arbeitet eng mit den LHC-Experimenten LHCb und ALICE sowie mit Observatorien und Plasmaphysiker:innen zusammen. Spezialist:innen auf all diesen Gebieten im Ruhrgebiet arbeiten unter ihrer Leitung zusammen, um diese geheimnisvollen Signale weiter zu entschlüsseln.

„Am wertvollsten an meiner Arbeit ist mir die wissenschaftliche Freiheit, ohne Einfluss von Aussen die Themen behandeln zu dürfen, die ich selbst wähle“, sagt Tjus. „Die ungelösten Probleme in den Messungen von kosmischer Strahlung, Gammastrahlung und Neutrinos sind für mich am inspirierendsten.“

ˆ