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    Alle Beiträge aus der Reihe „60 Jahre CERN".
Aus der Reihe „Stolpersteine auf dem Weg zum LHC
Aus der Reihe „Stolpersteine auf dem Weg zum LHC"

Ministerialdirektor a.D. Hermann Schunck, ehemaliger Mitarbeiter des Forschungsministeriums und ehemaliger deutscher Delegierter im CERN-Rat, erzählt seine eigene Geschichte der Entwicklung des Large Hadron Collider. Er erinnert sich an Finanzierungsengpässe, die Wiedervereinigung und die besondere Atmosphäre im CERN-Rat und schildert so Physikgeschichte aus Politikersicht - "Stolpersteine und Meilensteine" in fünf Teilen. Dieser Text erscheint demnächst im Springer-Verlag in dem Sammelband "Großforschung in neuen Dimensionen". Alle Teile der Serie:

Einleitung

Teil 2: Die Ausgangslage

Teil 3: Die Wiedervereinigung und der LHC

Teil 4: Es geht los

Teil 5: Krise und Neuanfang

Aus der Reihe „60 Jahre CERN
Aus der Reihe „60 Jahre CERN"
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03.11.2014

Stolpersteine und Meilensteine: Der mühevolle Weg zum Large Hadron Collider

Teil 1: CERN und sein Budget

LHC-Tunnel

Blick in den LHC-Tunnel. (Bild: CERN)

CERN ist eine internationale Organisation bei Genf an der französisch-schweizerischen Grenze mit dreitausend Mitarbeitern, die dort ein großes Labor für Teilchenphysik betreibt, mit dem Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) als zentralem Forschungsgerät. Elftausend Wissenschaftler aus Universitäten und Forschungseinrichtungen der ganzen Welt, für die CERN die eigentliche wissenschaftliche Heimat bildet, nutzen die von CERN betriebenen Beschleuniger. Diese Nutzer bauen und betreiben die großen Detektoren des LHC in freiwilliger Kooperation und mit eigenen Ressourcen. Diese Detektoren sind jeder für sich ein Großgerät, technisch außerordentlich komplex und anspruchsvoll. Der LHC zusammen mit seinen vier Detektoren ist nicht nur von seiner reinen Größe wie auch von der technischen Komplexität (fast) ohne Beispiel; auch das Zusammenwirken von einigen tausend Wissenschaftlern ist ein unerhörtes soziales Experiment.

Durch ein neues innovatives System verteilten Rechnens, dem GRID-Computing (Worldwide LHC Computing GRID), ist zudem eine weitere Schicht um CERN entstanden. Der LHC ist ein Lieferant gewaltiger Datenmengen, die nicht sofort, sondern manchmal erst Jahre später ausgewertet werden können. Durch weltweit verteilte Zentren und die Einrichtung von National Analysis Facilities - vor allem in USA, aber auch in Deutschland - kann die Auswertung in jedem Labor der Welt mit direktem Zugriff auf die Originaldaten stattfinden.

In diesem Sinne bilden CERN und LHC eigentlich ein weltweites Netzwerk mit vielen dezentralen Entscheidungen und Investitionen, die aber letztlich zu einem gemeinsamen Werk zusammengeführt werden; ein eigenartiges und vielleicht einzigartiges System. In der Mitte dieses weltweiten Netzes agieren der CERN-Rat und das CERN-Management. Die Bedeutung ihrer Entscheidungen und ihrer Verantwortung reicht weit über den Standort Genf hinaus.

Vor einer Dekade gab es noch Teilchenphysik-Laboratorien in den USA, Russland, Japan und Deutschland, die alle ihre eigenen Beschleuniger betrieben. Fast überall sind diese Forschungsgeräte mittlerweile abgeschaltet oder für andere Zwecke umgewidmet worden. Es gibt natürlich vielerorts Pläne für Nachfolgegeräte, aber keine Bauentscheidungen. So ist CERN in eine besondere Rolle geraten: ein europäisches Labor mit einer weltweiten Funktion. Entsprechend hoch ist die Verantwortung der verschieden Entscheidungsträger und -gremien von CERN für diesen Zweig der Physik.

Higgs-Seminar

Vier ehemalige Generaldirektoren während des Vortrags zur Higgs-Entdeckung im Jahr 2012, mit dem amtierenden Generaldirektor Rolf Heuer im Hintergrund. (Bild: CERN)

Der Bau eines Großgerätes wie der des Large Electron Positron Collider (LEP) oder des LHC erfordert immer wieder den zeitweiligen Aufbau quasi-industrieller Strukturen, um den vorgegebenen Zeit- und Kostenrahmen einzuhalten. Die zeitweilige Orientierung auf eine solche Struktur kann nicht durch Anordnung des Generaldirektors erreicht werden, sondern nur durch Kommunikation, Motivation, Vorbild und schließlich Einsicht. CERN als Generaldirektor zu führen ist daher eine weltweit einzigartige Herausforderung.

Ich habe in meiner Zeit am CERN vier Generaldirektoren intensiv erlebt, von Carlo Rubbia (1989-1993) über Chris Llewellyn Smith (1994-1998) und Luciano Maiani (1999-2003) bis Robert Aymar (2004-2008). Jeder von ihnen ist ein herausragender Wissenschaftler und auch eine starke Persönlichkeit. Ich habe großen Respekt vor diesen Männern; alle vier haben für CERN Außerordentliches geleistet. Und wenn in der Retrospektive gelegentlich kritische Anmerkungen fallen, geschieht dies, um Lehren für den Bau eines Großgerätes wie den des LHC zu ziehen.

In der Folge von vier Generaldirektoren, jeder verantwortlich für einen Abschnitt der Planungs- und Baugeschichte des LHC, sehe ich einen ersten und ernsthaften Stolperstein. Natürlich ist eine große internationale Organisation wie CERN gar nicht anders zu führen als mit einem regelmäßigen Wechsel an der Spitze. Nur sehr selten kommt es zu einer Verlängerung der Amtszeit; das bedarf „besonderer Umstände“ und stellt einen erheblichen Vertrauensbeweis dar, wie bei der Verlängerung der Amtszeit von Herwig Schopper zum Ende der Bauzeit des LEP oder jetzt beim derzeitigen Generaldirektor Rolf Heuer.

In meiner rund 20-jährigen Arbeit mit und für Großgeräte in Deutschland und Europa habe eines gelernt: wenn es eine herausragende Forscherpersönlichkeit gibt, die sich ein solches Projekt von Beginn bis zum Ende ganz zu eigen macht, gibt es eine wirklich große Chance, dass die unvermeidbar auftretenden Krisen eines solchen Projektes gemeistert werden. Der mehrfache Übergang von einem Generaldirektor zum nächsten während der Planungs- und Bauzeit des LHC stellte jedes Mal eine Klippe dar: Zu unterschiedlich waren Temperament und Führungsstil und es gab wohl auch Verschiebungen in den Zielstrukturen. Es kommt durch diesen Wechsel an der Spitze der Organisation immer wieder zu einem Kulturbruch.
 
Dabei war der CERN-Rat bei der Bestellung der Generaldirektoren während der Bauzeit des LHC durchaus weise: Llewellyn Smith, Maiani und Aymar waren vor ihrer Wahl jeweils Vorsitzender des Rates, des Wissenschaftlichen Rates oder eines ad-hoc-Komitees von CERN und daher mit dem Labor und dem LHC-Projekt außerordentlich gut vertraut. Aber einen Stolperstein stellte der Wechsel allemal dar. Immerhin gab es eine Schlüsselfigur, die seit 1994 bis zum Betriebsbeginn für den LHC verantwortlich zeichnete: der Projektleiter Lyn Evans. Ich wage die weder beweisbare noch widerlegbare Behauptung, dass ohne ihn der LHC weit mehr als die Krisen erlebt hätte als die, die ich hier ansprechen werde.

Budget

Entwicklung des CERN-Budgets über mehrere Jahrzehnte.

Das Budget des CERN

Trotz der unbestrittenen Bedeutung von CERN ist es keineswegs selbstverständlich, dass die Regierungen und Parlamente der Mitgliedssaaten stets bereit sind, die notwendigen Mittel für eine Organisation wie CERN und insbesondere für den Bau und Betrieb immer größerer Forschungsgeräte bereitzustellen. Es hat in der Geschichte von CERN immer wieder Krisen gegeben, teilweise ausgelöst von Mitgliedsstaaten, die mit ihrem finanziellen Rückfluss in die Industrie unzufrieden waren und gelegentlich mit dem Austritt aus der Organisation gedroht haben. Ich erinnere mich gut an die polemische Frage eines Kollegen im Forschungsministerium: „Welche Nachteile erleidet die Menschheit eigentlich, wenn sie die Existenz des Higgs-Teilchens 10 Jahre später erfährt, als Physiker träumen?“

Das Budget von CERN (Einnahmen) betrug im Jahr 1990 859 Millionen Schweizer Franken, 2000 waren es 989 Millionen Schweizer Franken und 2013 1189 Millionen Schweizer Franken (1 Franken entsprach Ende 2012 etwa 0.82 Euro). Die verfügbaren Finanzmittel von CERN sind über die letzten 20 Jahre inflationsbereinigt erheblich gesunken. Das ist sicherlich mehr als ärgerlich. Wir werden im Folgenden einige Szenarien streifen, die zu dieser für CERN schmerzhaften Entwicklung geführt haben. Dennoch bleibt festzuhalten, dass es kaum eine andere wissenschaftliche Disziplin gibt, die über eine Organisation mit einem Budget in dieser Größenordnung verfügt und so immer wieder zu neuen Grenzen vorstoßen kann.

Der größte Teil der Einnahmen von CERN sind Beiträge der Mitgliedsstaaten, dazu kommen in unregelmäßiger Folge Sonderleistungen der beiden Sitzländer Schweiz und Frankreich und schließlich – vor allem während der Bauphase des LHC - nicht unerhebliche Beiträge von Nicht-Mitgliedsstaaten. Der jährliche Beitrag zum Haushalt von CERN (2013 rund 1200 Millionen Schweizer Franken) wird zwischen den Mitgliedstaaten nicht frei ausgehandelt, sondern nach einer festen Formel berechnet, auf der Grundlage des „Net National Income“ (Nettovolkseinkommen) der Mitgliedsstaaten. Es gibt eine rollierende 5-jährige Finanzplanung, durch die CERN, jedenfalls im Regelfall, für seine langfristig orientierte Arbeit Planungssicherheit erwarten darf. Trotzdem führen die jährlichen Finanzverhandlungen im CERN-Rat immer wieder auf Stolpersteine.

Budget Anteile

Prozentuale Verteilung der Länderbeiträge zum CERN-Budget.

Deutschland ist 2014 mit gut 20% der Beiträge (222 Millionen Schweizer Franken oder rund 183 Millionen Euro) an der Finanzierung von CERN beteiligt, gefolgt von Frankreich (16%), UK (15%) und Italien (12%); niedrigster Beitragszahler ist Bulgarien mit 0.3%. Der deutsche Anteil an der Finanzierung ist 2014 auf Grund der starken Wirtschaftsleistung gegenüber den Vorjahren wieder um rund einen Prozentpunkt gestiegen und wird wohl weiter steigen.

Im Jahr 2011, als mit dem Betrieb des LHC eine „normale Aufgabenstruktur“ vorlag, betrug der Anteil des Personals am Haushalt ca. 49% (ca. 612 Millionen Schweizer Franken), ein vernünftiger Anteil, wenn sich nicht noch anderswo Personalausgaben verbergen. Denn es ist natürlich vor allem in Zeiten stagnierender Mittel außerordentlich wichtig, dass das Budget einer Einrichtung wie CERN nicht von den Personalkosten „aufgefressen“ wird, sondern genug Spielraum für den Betrieb der Anlagen und natürlich auch für Investitionen lässt; allein die Betriebskosten für den LHC betrugen 2011 und 2012 jeweils über 300 Millionen Schweizer Franken.

Weiter zu Teil 2 der Serie.

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