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    Alle Beiträge aus der Reihe „60 Jahre CERN".
Aus der Reihe „Stolpersteine auf dem Weg zum LHC
Aus der Reihe „Stolpersteine auf dem Weg zum LHC"
Ministerialdirektor a.D. Hermann Schunck, ehemaliger Mitarbeiter des Forschungsministeriums und ehemaliger deutscher Delegierter im CERN-Rat, erzählt seine eigene Geschichte der Entwicklung des Large Hadron Collider. Er erinnert sich an Finanzierungsengpässe, die Wiedervereinigung und die besondere Atmosphäre im CERN-Rat und schildert so Physikgeschichte aus Politikersicht - "Stolpersteine und Meilensteine" in fünf Teilen. Dieser Text erscheint demnächst im Springer-Verlag in dem Sammelband "Großforschung in neuen Dimensionen". Alle Teile der Serie:

Einleitung

Teil 1: CERN und sein Budget

Teil 2: Die Ausgangslage

Teil 3: Die Wiedervereinigung und der LHC

Teil 5: Krise und Neuanfang
Aus der Reihe „60 Jahre CERN
Aus der Reihe „60 Jahre CERN"
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07.11.2014

Stolpersteine und Meilensteine: Der mühevolle Weg zum Large Hadron Collider

Teil 4: Es geht los

Bagger ATLAS-Kaverne

Ein Bagger hebt den heutigen oberen Teil der ATLAS-Kaverne aus. (Bild: CERN)


Zeitgeschichtliche Ereignisse wie die deutsche Wiedervereinigung, das Drängen verschiedener Delegationen nach einer Absenkung des eigenen Beitrages oder gleich des ganzen CERN-Budgets bargen mehrere Stolpersteine; das Projekt hätte scheitern können. Die Finanzierung eines neuen Großgerätes war ernsthaft gefährdet, zumal die Organisation noch mit Altschulden belastet war, die aus der Zeit des Baus und dann des Upgrades von LEP stammten.
  
Weil die Finanzierung des Projektes 1994 gegenüber der Kostenschätzung eine Lücke von rund 500 Millionen Schweizer Franken aufwies, schlug der neue Generaldirektor Chris Llewellyn Smith vor, den LHC in mehreren Stufen zu bauen und Beiträge von Nicht-Mitgliedsstaaten einzuwerben.
  
Dank viel diplomatischem Geschick des Generaldirektors und dem Einwerben von ausreichenden Beiträgen aus Nicht-Mitgliedsstaaten konnte der Rat 1996 beschließen, den LHC in einer Stufe zu bauen. Jetzt war die Inbetriebnahme für 2005 geplant. Die Kosten wurden mit 2,6 Milliarden Schweizer Franken angegeben. Es bestand endlich Klarheit; die Mannschaft war motiviert. Endgültige Pläne konnten ausgearbeitet werden.

Der tatsächliche Baubeginn des LHC darf mit 1998 angesetzt werden, nachdem die notwendigen Genehmigungen der französischen und schweizerischen Behörden vorlagen. Umfangreiche Erdarbeiten begannen 1998, Industriearbeiten 1999. Die ersten ausländischen Sachleistungen beziehungsweise Sachbeiträge wurden 1999 aus Russland und 2000 aus den USA angeliefert. Ende 2000 wurde auch der Betrieb des Vorgängerprojektes LEP beendet; der Tunnel stand damit für den Aufbau des LHC zur Verfügung. Die Serienfertigung der rund 1300 supraleitenden Dipolmagnete wurde 2001 bei drei europäischen Unternehmen aufgenommen.
  
Im Jahr 2001 war die Inbetriebnahme mit ersten Kollisionen von Protonen für 2006 vorgesehen. Das Projekt begann langsam Fahrt aufzunehmen. Alles schien nun einen guten Lauf zu nehmen, die Sorgen und Wünsche der Mitgliedsstaaten waren berücksichtigt, die Klippen zeitgeschichtlicher Ereignisse umschifft.

Llewellyn Maiani Eschelbacher

Im Jahr 1998 eröffneten der amtierende Generaldirektor Chris Llewellyn Smith (links) und der zukünftige Generaldirektor Luciano Maiani eine Industrieausstellung deutscher Firmen am CERN. Rechts: Ministerialdirigent Dr. Hans C. Eschelbacher (BMBF). Foto: CERN

Die Krise

Eigentlich durfte es keine Überraschung sein, dass das LHC-Projekt in eine Krise geriet, bevor es richtig Fahrt aufgenommen hatte. Schließlich war es eines der größten und komplexesten technischen Projekte, an das sich menschliche Ingenieurskunst je gewagt hatte. Und doch wirkte es dann wie ein Donnerschlag, als im Herbst 2001 der Generaldirektor Luciano Maiani offengelegen musste, dass die aktuelle Kostenschätzung um 18% gestiegen war.

Bereits im Frühjahr 2001 hatte der Flurfunk von CERN berichtet, dass es erhebliche Kostenprobleme gäbe. In der Juni-Sitzung des Rates kam dies - allerdings nur kurz - zur Sprache. Maiani antwortete auf die Frage, ob es tatsächlich, wie man höre, Probleme gebe: „Gerüchte kommentiere ich nicht.“ Ein Dementi war das nicht, wohl nur der Versuch, Zeit zu gewinnen.

In der Herbstsitzung 2001 des Ratskomitees berichtete Maiani dann von ernsten Kostenproblemen und nannte als Ergebnis einer Untersuchung des Internal Audit Service einen Anstieg der aktuellen Schätzung der „Fertigstellungskosten“ um 18% von 2593 Millionen Schweizer Franken auf 3068 Millionen Schweizer Franken mit einen Fehlbetrag von rund 475 Millionen Schweizer Franken; dann wurden noch weitere Gewerke mit Kosten von rund 240 Millionen Schweizer Franken identifiziert, die bislang nicht etatisiert waren. Zusätzlich hatte eine gleichzeitige Überprüfung der Kostenschätzungen der vier Detektoren des LHC auch dort eine Lücke von ca. 360 Millionen Schweizer Franken ergeben. Auch wenn dieses Risiko nicht vollständig bzw. nicht unmittelbar zu Lasten von CERN ging, waren in dem Gesamtprojekt doch insgesamt Zusatzkosten in der Größenordnung eines guten Jahresbudgets von CERN aufgelaufen, ein gewaltiger Brocken.

Einen Lösungs- bzw. Finanzierungsvorschlag legte der Generaldirektor nicht vor. Zufall oder nicht, der Fehlbetrag entsprach ziemlich genau den Absenkungen der Mitgliedsbeiträge in den Vorjahren. Eine Kostenüberschreitung von 18% mag uns heute gering erscheinen angesichts des medialen Desasters mit dem Bahnhof in Stuttgart, dem Flughafen in Berlin oder gar der Elbphilharmonie in Hamburg und auch dem World Conference Center in Bonn. Aber für CERN und den LHC drohte damals ein Scheitern des Projektes.

Ich kann über die Motive der Vorgehensweise des Generaldirektors nur spekulieren. Vielleicht wollte er mit einer dramatischen Inszenierung erreichen, dass die Mitgliedsstaaten die vorherigen Absenkungen des Budgets rückgängig machen und so CERN von dem Kostendruck befreien. Sollte dies so gewesen sein, hatte er sich gründlich verrechnet. Der CERN-Rat forderte das Management vielmehr auf, einen Vorschlag zur Vollendung des LHC ohne zusätzliche Beiträge vorzulegen.

Allerdings war Luciano Maiani persönlich nicht ganz unbeteiligt an dem entstandenen Finanzierungsloch. Sein Vorgänger hatte ihm schriftlich eine eindringliche Mahnung hinterlassen, CERN nicht mit einem neuen Projekt zu belasten; die finanzielle Situation von CERN und des LHC sei einfach zu angespannt. Maiani entschied bei seinem Amtsantritt anders und schlug als neues Projekt einen Neutrinostrahl zu dem italienischen Gran Sasso Labor vor, physikalisch wirklich spannend – da mochte sich schließlich der Rat in der Dezember-Sitzung 1999 nicht verweigern; der eine oder andere Delegierte vielleicht mit einem schlechten Gewissen. Die Gesamtkosten, inklusive der internen Personalkosten, waren mit rund 100 Millionen Schweizer Franken veranschlagt.

Die Empörung der Delegationen im Herbst 2001 über das Finanzloch und seine Höhe war durchweg groß, mehr noch über den Kommunikationsstil des Generaldirektors als über das Kosten- bzw. Finanzierungsproblem selbst. Gewichtige Delegationen stellten in ihren ersten Reaktionen am Rande der Sitzung die Frage nach einer persönlichen Konsequenz des Generaldirektors. Mir erschien dies einerseits durchaus plausibel, allerdings hätte andererseits nach meiner Einschätzung eine Diskussion im Rat darüber wenig zur Lösung des Problems beigetragen, die Situation vielmehr noch weiter verschärft. Schließlich ist der Rat von CERN weder ein nationales Parlament, das mit einem Misstrauensvotum einen neuen Regierungschef einsetzt, noch der Aufsichtsrat einer Unternehmung, der in einer Notsituation umgehend einen neuen Firmenchef beruft. In einer internationalen Organisation gelten andere Spielregeln, die zu einer langen Phase der Unsicherheit geführt hätten.

Ich hielt es seinerzeit für erfolgversprechender, den Generaldirektor mit seinen Kenntnissen und auch mit seinem Ehrgeiz zu verpflichten, für das entstandene Problem gemeinsam eine Lösung zu suchen und durchzusetzen. Ich habe ihm etwas später genau dies gesagt, dass ich, wie andere, ziemlich sauer sei, aber hoffe, dass er die Chance zum Wohl von CERN nutzen werde, den LHC wieder in die Spur zu bekommen. Luciano Maiani hat diese Erwartung nicht enttäuscht.

Weiter zu Teil 5.

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