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Aus der Reihe „Stolpersteine auf dem Weg zum LHC
Aus der Reihe „Stolpersteine auf dem Weg zum LHC"
Ministerialdirektor a.D. Hermann Schunck, ehemaliger Mitarbeiter des Forschungsministeriums und ehemaliger deutscher Delegierter im CERN-Rat, erzählt seine eigene Geschichte der Entwicklung des Large Hadron Collider. Er erinnert sich an Finanzierungsengpässe, die Wiedervereinigung und die besondere Atmosphäre im CERN-Rat und schildert so Physikgeschichte aus Politikersicht - "Stolpersteine und Meilensteine" in fünf Teilen. Dieser Text erscheint demnächst im Springer-Verlag in dem Sammelband "Großforschung in neuen Dimensionen".
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Aus der Reihe „60 Jahre CERN
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08.11.2014

Stolpersteine und Meilensteine: Der mühevolle Weg zum Large Hadron Collider

Teil 5: Krise und Neuanfang

resource review board

Eines der Kontrollgremien des CERN, das LHC-Ressourcen-Komittee, besucht 2003 die Kaverne, in die der ATLAS-Detektor einziehen wird. (Bild: CERN)

In der Dezember-Sitzung 2001 des CERN-Rates wurde dann – förmlich auf Vorschlag des Generaldirektors – ein External Review Committee (ERC) unter Vorsitz des Franzosen Robert Aymar eingesetzt. Ein außerordentlich erfahrener Forschungsmager; ich kannte ihn gut aus gemeinsamer Arbeit im Lenkungsausschuss eines anderen europäischen Forschungsinstitutes, ein verlässlicher Mann der Tat, nicht nur des Wortes. Später setzte ich mich als Mitglied der Findungskommission für ihn als nächsten Generaldirektor des CERN ein. Als deutsches Mitglied des ERC hatten wir Sigurd Lettow vorgeschlagen, damals kaufmännisches Vorstandsmitglied des Forschungszentrums Karlsruhe. Er machte seine Arbeit in der Kommission so überzeugend, dass Aymar ihn später (2007) als Verwaltungschef in das Direktorium von CERN berief.
  
Der Bericht des ERC, vorgelegt in der Sommersitzung 2002 des Rates, war in der Diagnose gründlich und umfassend und lieferte klare Handlungsempfehlungen, die dann im Verlauf der weiteren Beratungen auch weitgehend umgesetzt wurden. CERN – Direktion wie Rat - demonstrierten mit der Einsetzung des ERC und der Umsetzung seiner Empfehlungen, dass das Labor letztendlich zu angemessenen Reaktionen auf die Krise fähig war.

Die erste und eigentlich beruhigende Feststellung des ERC war, dass die technische Basis des Projektes solide und das technische Management effektiv sei; von den Kostenüberschreitungen fiele nur der kleinere Teil auf die eigentlich technisch anspruchsvollsten Systeme, die supraleitenden Magnete und die Kältetechnik. Das war zunächst einmal ein Lob für das LHC-Team mit Projektleiter Lyn Evans.

Die nächsten Feststellungen des ERC waren weniger erfreulich, sie liefen im Wesentlichen darauf hinaus, dass CERN sich in seiner Organisation und Ressourcenpolitik nicht hinreichend auf den Bau des LHC eingestellt hatte. Zunächst einmal wurde eine unzureichende Konzentration des CERN-Managements und -Personals auf das LHC-Projekt als Kernaufgabe des Labors bemängelt. Die Organisation des CERN mit einer Matrixstruktur mache klare Verantwortlichkeiten für die einzelnen Gewerke des LHC unmöglich. Es fehle weiter eine Kostenkontrolle, sowie ein Risikomanagement und eine angemessene finanzielle Risikovorsorge. Darüber hinaus sei der vorgesehene Fertigstellungstermin ehrgeizig und mit hohen Risiken verbunden.

Der ERC legte eine eigene Kostenschätzung vor, unter Einschluss bislang fehlender oder anderweitig verbuchter Projektteile, insbesondere der internen wie externen Personalkosten, und unter Berücksichtigung einer gewissen Risikovorsorge. Das Ergebnis belief sich auf stolze 4.6 Milliarden Schweizer Franken (in Preisen von 2002).

Der ERC bemängelte, dass die Basis früherer Kostenschätzung für den LHC unvollständig war: „Die Kostenschätzung aus dem Jahr 1996 umfasst nicht die Gesamtkosten des LHC-Projekts“. So war, um ein Beispiel zu nennen, 1994 ein wichtiges Element bewusst ausgeklammert worden, ohne dass man den Rat davon in Kenntnis gesetzt hätte (oder jemand wie ich es gemerkt hätte), nämlich die überaus ehrgeizige Informationstechnik zur Auswertung der Experimente. Tatsächlich wurde dies später (2001) als gesondertes Projekt (GRID Computing) aufgesetzt, für das eine zusätzliche Finanzierung gefunden werden musste, von Mitgliedsstaaten wie von der EU. Die Kosten für das Worldwide LHC Computing GRID wurden mit 120 Millionen Schweizer Franken angesetzt, tatsächlich wurden von CERN insgesamt 179 Millionen Schweizer Franken aufgewandt.

Für eine Reform der Organisationsstruktur von CERN schlug die Aymar-Kommission zwei alternative Modelle vor, ein „Vorstandsmodell“ und ein „Geschäftsführungsmodell“. Robert Aymar hat später in seiner Zeit als neuer Generaldirektor das sog. Vorstandsmodell mit lediglich drei (später vier) Direktoren umgesetzt, eine deutliche Verschlankung gegenüber seinem Vorgänger, der ein 6-köpfiges Direktorat berufen hatte.

Schließlich möchte ich – durchaus selbstkritisch – anmerken, dass der CERN-Rat mit seinen Gremien wie dem Finanzausschuss offenbar an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen war, im Zusammenspiel mit dem Management ein Großprojekt wie den LHC zu begleiten. Die Einsetzung des Aymar-Komitees war so etwas wie ein Eingeständnis dieses Defizits und auch eine Notbremse in letzter Sekunde. Die abschließende Verantwortung des Rates für das Schicksal von CERN und des LHC will ich aber keineswegs leugnen.

Schunck Aymar

Der Autor (links) und CERN-Generaldirektor Robert Aymar im Jahr 2005 am CERN. Bild: CERN

Der Neustart

Der Aymar-Bericht wurde Ausgangspunkt eines erfolgreichen Neustarts des LHC-Projektes. Generaldirektor Luciano Maiani setzte zusammen mit dem Rat die vorgeschlagenen Maßnahmen des Aymar-Komitees weitgehend um. Dies wurde in den Ratssitzungen von Sommer und Winter 2002 förmlich beschlossen. Von da an gab es eine eindeutige Verantwortung des Projektleiters für das Projekt, nicht nur in technischer Hinsicht. Voraussetzung dafür waren eine Neuordnung der Organisation von CERN mit einer klaren Orientierung auf das LHC-Projekt und die Einführung eines Systems der Projektverfolgung, das es ermöglichte, den erreichten Projektstand, die dafür aufgewandten Finanzmittel (earned value system) und eine aktuelle Kostenschätzung (cost to completion) jederzeit abzurufen.
  
Eine zwingende Erfahrung aus dem Bau des LHC ist für mich, dass für ein großes und komplexes Projekt mit erheblichem Zeitbedarf eine unabhängige, externe, das Projekt begleitende Controlling-Struktur unabdingbar ist, wie sie bei CERN durch das External Review Committee unter Vorsitz von Robert Aymar und durch ein neu eingerichtetes Cost and Schedule Review Committee unter Vorsitz von John Peoples (Fermilab) erst im Projektverlauf eingerichtet wurden. Auf Anregung des Aymar-Komittees wurde schließlich ein Standing Advisory Committee on Audits eigerichtet, das seither die verschiedenen Controlling-Aktivitäten koordiniert. Erst mit Hilfe einer solchen Controlling-Struktur war auch der Rat wieder handlungsfähig.

Natürlich mussten weitere unvorhersehbare Schwierigkeiten bewältigt werden, die leicht zu wirklichen Stolpersteinen hätten werden können, so etwa Probleme mit zahlreichen industriellen Lieferanten. 2002 führte bspw. die Insolvenz der Mutterfirma des deutschen Lieferanten eines Drittels der supraleitenden Dipole (Babcock-Noell) vorübergehend zu Aufregung; der Auftrag konnte aber trotzdem fristgerecht durchgeführt werden.

Die Jahre 2001 und 2002 waren so der Aufarbeitung der Finanzkrise und einer Neuaufstellung von CERN mit einer Konzentration auf das LHC-Projekt gewidmet. Als Ergebnis konnte Luciano Maiani in der Ratssitzung im Dezember 2002 feststellen: „Der LHC ist wieder auf der Spur“ und in seiner Abschiedsrede als Generaldirektor ein Jahr danach, durchaus zu Recht: „Es war ein gutes Jahr für das LHC-Projekt“. Als Beginn der Inbetriebnahme wurde nunmehr das Jahr 2007 angegeben. Der Neustart war geglückt.

Teilchen und Stolpersteine im LHC

Unfall

Was eine nicht gut gut genug zusammengefügte Magnetverbindung anrichten kann -- der Unfall 2008. Bild: CERN.

Ein gutes Jahr nach Abgabe des Berichtes des Aymar-Komitees wurde Robert Aymar zum Generaldirektor des CERN gewählt, wie üblich ein Jahr vor Antritt seiner Amtszeit Anfang 2004, aus meiner Sicht eine konsequente Entscheidung. Aymar war Physiker mit Erfahrung in wichtigen Technologiebereichen von Bedeutung für den LHC, aber kein Teilchenphysiker. So gab es unter den traditionellen Physikern des CERN zunächst durchaus Vorbehalte, die nach meiner Erinnerung aber schwanden, je deutlicher es wurde, dass Aymar „lieferte“. Sein „Regierungsprogramm“ war der Aymar-Report. Und unter Führung von Robert Aymar wurde der Bau des LHC schließlich 2008 fertiggestellt.
  
Dann kam doch noch Murphy‘s Law ins Spiel. Nachdem im September 2008 zum ersten Mal Protonen im LHC kreisten, kam es kurz darauf doch noch zu einer größeren technischen Panne, einer Beschädigung des Kühlsystems, die schließlich den Austausch bzw. die Reparatur von 53 Dipolmagneten erforderlich machte. Dadurch wurde der Beginn des wissenschaftlichen Betriebes des LHC um ein ganzes Jahr verzögert, ein größeres Ärgernis als die tatsächlich entstandenen Kosten von 45 Millionen Schweizer Franken. Es ist im Nachhinein schwer zu sagen, ob der Fahrplan für die Inbetriebnahme zu ehrgeizig war, riskant war er allemal - oder ob mit einer derartigen Panne einfach gerechnet werden musste. Robert Aymar konnte so die Aufnahme des Forschungsbetriebes des LHC nicht mehr in seiner Amtszeit erleben, das blieb Rolf Heuer vorbehalten, der 2007 zum neuen Generaldirektor gewählt worden war. Es gab kurz nach der Panne im Oktober 2008 eine offizielle Einweihungsfeier des LHC, ohne dass dieser in Betrieb war – eine etwas gespenstische Situation; übrigens mein momentan letzter Besuch des CERN.
  
Erst im November 2009 umkreisten wieder Protonen den gesamten Ring, kurz darauf wurden die ersten Kollisionen beobachtet, zunächst allerdings mit einer Kollisionsenergie von 7, später 8 TeV. Ab März 2010 wurden schließlich von den vier großen Detektoren am LHC Daten genommen – 19 Jahre nach der Bitte des Rates an den Generaldirektor, Pläne für den LHC auszuarbeiten und 10 Jahre nach der Stilllegung des LEP! Weltweit hatten Physiker hierauf mit wachsender Ungeduld gewartet; vor allem für die jungen Doktoranden und Postdoktoranden sind Verzögerungen in dieser Größenordnung, insgesamt ja deutlich länger als die ohnehin schon lange Dauer einer Promotion, außerordentlich schwer zu verkraften. Ich glaube, dass mit dem LHC in jeder Hinsicht, von der Größe und Komplexität des Beschleunigers und der vier Detektoren, der Zahl der beteiligten Wissenschaftler und Techniker bis zu der Bauzeit, eine Grenze erreicht ist, die nur schwer erfolgreich übertroffen werden kann.

Jubel im Kontrollraum

Jubel im Kontrollraum: der LHC liefert Daten! Bild: CERN

Schlussbemerkung

Was ist nun meine Schlussfolgerung, werden Sie fragen? Zunächst einmal, ich war ja Teil des Systems, habe 15 Jahre den Entscheidungsprozess begleitet, mitgetragen und auch mitgeformt. Deshalb fühle ich genauso wie die auf dem gezeigtem Bild jubelnden Techniker und Physiker. Aber einen Schuss Nachdenklichkeit erlaube ich mir schon. Zu vielfältig waren die Klippen und Stolpersteine. Und ich habe die Hoffnung, dass einige Lehren aus dem schwierigen Weg zum Erfolg gezogen werden können.

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