Mehr zum Thema
RSS-Feed
22.12.2016

In jedem steckt ein Teilchenjäger

Lust auf ein bisschen Teilchenphysik über die Festtage? Im „Higgs Hunters“-Projekt kann jeder dabei mithelfen, in den Daten des LHC nach neuen Teilchen zu suchen. Eine erste wissenschaftliche Evaluation des Projekts zeigt jetzt, dass die Amateurwissenschaftler die Daten genauso gut auswerten können wie die Computer-basierten Algorithmen der ATLAS-Forscher, vielleicht sogar besser.

Sogenannte Citizen-Science-Projekte werden seit ein paar Jahren immer beliebter. In diesen Projekten können Menschen ohne wissenschaftliche Vorbildung an Forschungsprogrammen mitarbeiten und einfache, aber zeitintensive Aufgaben übernehmen. So konnten Bürgerwissenschaftler im Projekt Galaxy Zoo bereits dabei helfen, Millionen von Galaxien in Aufnahmen von Teleskopen zu kategorisieren. Für Wissenschaftler hat das gleich zwei Vorteile: Einerseits bekommt die Öffentlichkeit mit, an was sie eigentlich so forschen, und lernt dazu, andererseits profitieren die Wissenschaftler, weil ihre Forschung vorangetrieben wird.

Event Display Teilchenkollision

Solche Event Displays (hier aus einer Simulation) analysieren die Higgs-Jäger. Die beiden Punkte markieren Zerfallspunkte, die nicht am Hauptkollisions- oder Zerfallspunkt liegen – sogenannte off-centre vertices (OCVs), die vielleicht den Zerfall neuer Teilchen zeigen.
Bild: Higgs Hunter (ATLAS/CERN)

Das CERN hat bisher nur sehr begrenzt auf die Hilfe von Citizen Scientists zurückgegriffen. Im Vorgängerprojekt „LHC@Home“ konnten Freiwillige dem CERN Rechenzeit auf ihren Computern zur Verfügung stellen, um bei der Datenauswertung zu helfen, in anderen Projekten mussten die Teilnehmer bereits weitreichende Programmierkenntnisse besitzen, um helfen zu können. Das „Higgs Hunters“-Projekt ist das erste, in dem praktisch jeder mithelfen kann. Entwickelt wurde „Higgs Hunters“ von Wissenschaftlern der Universität Oxford, der Universität Birmingham und der New York University zusammen mit weiteren ATLAS-Forschern und den Betreibern der Zooniverse-Plattform, auf der verschiedene Citizen-Science-Projekte untergebracht sind. Wie bei Galaxy Zoo geht es auch bei „Higgs Hunters“ darum, Bilder auszuwerten. Hier sollen sie aber nicht in bestimmte Kategorien eingeordnet werden, sondern nach besonderen Details durchsucht werden.

Wenn im LHC Teilchen kollidieren, zeichnen die Detektoren eine Vielzahl von Messwerten auf. Daraus kann berechnet werden, welche Teilchen in den Kollisionen entstanden sind, in welche Richtung und wie weit diese Teilchen geflogen sind. Daraus werden Event Displays erstellt, in denen die Bahnen der Teilchen im Detektor rekonstruiert werden. Im „Higgs Hunters“-Projekt werden solche Event Displays von Proton-Proton-Kollisionen im ATLAS-Detektor aus dem Jahr 2012 ausgewertet. Das Ziel dabei: durch das Suchen nach außergewöhnlichen Kollisionspunkten könnten neue, exotische Teilchen gefunden werden.

Diese könnten zum Beispiel auch im Zerfall des Higgs-Teilchens entstehen. Das Higgs-Teilchen wurde gemeinsam von den LHC-Experimenten ATLAS und CMS im Jahr 2012 in Proton-Proton-Kollisionen entdeckt. Es ist extrem instabil und zerfällt - sobald es produziert wurde - in leichtere Teilchen. In diesem Zerfall könnten nach verschiedenen Theorien in sehr seltenen Fällen neue, nicht im Standardmodell der Teilchenphysik enthaltene und bisher unentdeckte Teilchen entstehen. Diese Teilchen würden nur sehr schwach mit anderen Teilchen wechselwirken, weshalb sie eine gewisse Distanz im Detektor zurücklegen können, bevor sie in andere, bekannte Teilchen zerfallen. In den Event Displays könnte man sie nicht direkt sehen, aber sie würden sich dadurch zeigen, dass nicht nur von der Mitte des Detektors, wo die Kollisionen stattfinden, Teilchenbahnen ausgehen, sondern dass auch an anderen Orten, quasi aus dem Nichts, mehrere Teilchenspuren beginnen – das sind die off-centre vertices.

Computerprogramme können diese OCVs nur relativ schwer und mit komplexen Algorithmen erkennen, Menschen fällt es dagegen leicht, sie zu identifizieren. Die Datenmenge ist jedoch viel zu groß, als dass die Wissenschaftler diese Aufgabe alleine bewerkstelligen könnten. Deswegen wenden sie sich jetzt an Freiwillige.

Animation Suche nach OCVs

So sieht es aus, wenn in den Event Displays die auffälligen Stellen markiert werden. Nicht alle Bilder sind so unübersichtlich wie das hier, oft kann auch gar nichts markiert werden.
Bild: Higgs Hunter (ATLAS/CERN)

Im „Higgs Hunters“-Projekt besteht die Aufgabe also darin, auf Event Displays, die vorher nach bestimmten Kriterien durch die Forscher ausgewählt wurden, OCVs zu markieren und anzugeben, wie viele verschiedene Teilchenbahnen aus diesen Punkten hervorgehen. Zusätzlich sollen die Teilnehmer alles markieren, was ihnen komisch vorkommt. Es gibt Foren, in denen besonders spannende Bilder diskutiert werden und die Hilfe bieten, wenn Teilnehmer sich bei der Auswertung unsicher sind. In einem Blog erklären Wissenschaftler die Grundlagen der Teilchenphysik und geben aktuelle Informationen zum Verlauf des Projekts.

Das Besondere an Higgs Hunters: es ist noch nicht klar, was eigentlich in den Daten steckt und damit im Projekt herauskommt. Die Entdeckung neuer Teilchen, die das Standardmodell erweitern würden, wäre eine wissenschaftliche Sensation. Dementsprechend groß war das Interesse an dem Projekt. Bis Oktober 2016 haben 32.288 Bürgerwissenschaftler aus 179 Ländern mitgemacht und mehr als 39.000 verschiedene Bilder ausgewertet. Jedes Bild wurde dabei von ungefähr 20 verschiedenen Teilnehmern ausgewertet, damit die Ergebnisse möglichst verlässlich sind.

Die Forscher, die das Projekt entwickelt haben und begleiten, haben jetzt eine erste Bewertung des Projekts erstellt, in der sie untersucht haben, wie effizient die Teilnehmer die OCVs tatsächlich identifizieren und wie gut sie sich im Vergleich zu Computerprogrammen schlagen. Dafür verwendeten sie Bilder aus Simulationen, bei denen bekannt ist, wo die OCVs liegen und die ebenfalls ausgewertet wurden. Die Ergebnisse sind auch für manchen Wissenschaftler überraschend: Die Amateurwissenschaftler können gut mit den Auswertungsalgorithmen mithalten, sind in manchen Bereichen sogar besser als der Computer. Zusätzlich konnten sie einige besondere, überraschende Ereignisse markieren, die genauer untersucht wurden.

Eine Befragung von 320 Teilnehmern ergab, dass das Projekt auch dabei helfen konnte, das Interesse an Physik zu vergrößern. 80% der Befragten gaben an, dass sie durch das Projekt mehr über Teilchenphysik erfahren haben, 97% würden gerne bei einem weiteren solchen Projekt mitmachen und fast zwei Drittel wollen wegen des Projekts mehr über Wissenschaft herausfinden. Interessant ist auch die Auswertung der Anzahl der Bilder, die die verschiedenen Teilnehmer ausgewertet haben. Die meisten haben nur einige wenige Beispiele untersucht, es gab jedoch auch zehn Citizen Scientists, die mehr als 5000 Bilder ausgewertet haben, ein Teilnehmer sogar fast 20.000. Wer dabei helfen will, exotische Teilchen zu jagen, kann auf higgshunters.org mitmachen.

ˆ