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01.12.2016

Mit der präzisesten Waage der Welt auf der Suche nach Geisterteilchen

KATRIN-Spektrometer

Ein Blick in das Innere des Haupt-Spektrometers Bild: KATRIN/KIT

Wie misst man die Masse eines Teilchens, das rund eine Milliarde Mal leichter ist als ein Wasserstoffatom und jede Art von Materie nahezu ungehindert passiert? Forscher am Karlsruher Institut für Technologie KIT glauben, eine Antwort auf diese Frage gefunden zu haben. Mit einem riesigen Detektor wollen sie die Masse des leichtesten bekannten Materie-Teilchens, des Neutrinos, bestimmen. Vor kurzem bestand ihre Anlage, das KATRIN-Experiment (KArlsruhe TRItium Neutrino Experiment), einen ersten wichtigen Funktionstest, das sogenannte „first light“.

Neutrinos gelten als „Geisterteilchen“ des Universums. Sie sind die häufigsten Teilchen, die eine Masse haben, Milliarden von ihnen rauschen in jeder Sekunde unbemerkt durch den menschlichen Körper. Über ihre Eigenschaften ist allerdings sehr wenig bekannt, was daran liegt, dass sie weder eine starke noch eine elektromagnetische Ladung besitzen und nur über die schwache Wechselwirkung mit anderen Teilchen interagieren. Lange war nicht einmal klar, ob Neutrinos überhaupt Masse besitzen. Erst die Beobachtung, dass sie oszillieren und dabei zwischen drei verschiedenen Arten mit unterschiedlicher Masse wechseln, zeigte, dass Neutrinos eine (sehr kleine) Masse besitzen. Der Nachweis der Oszillation wurde 2015 auch mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet. Wie klein die Masse der Neutrinos genau ist, ist noch unbekannt, da sie in Detektoren fast nicht erfasst oder gemessen werden können. Bisher konnte nur eine Obergrenze gesetzt werden, Neutrinos wiegen weniger als 2,32 eV. Elektronenvolt oder eV ist die in der Teilchenphysik übliche Einheit für Masse. Zum Vergleich: Ein Elektron wiegt ungefähr 511 keV, das ist mehr als 200.000 Mal so viel.

KATRIN soll diese Einschätzung jetzt auf bis zu 0,2eV eingrenzen. Da die Masse nicht direkt gemessen werden kann, verwenden die Forscher einen kleinen Trick, um sie indirekt berechnen zu können. Die Idee ist eigentlich ganz einfach: Beim radioaktiven Zerfall bestimmter Elemente (dem sogenannten β-Zerfall) wird ein Proton in ein Neutron umgewandelt, dabei werden ein Elektron und ein Neutrino ausgestrahlt. Die Forscher wissen, dass beim Zerfall eine bestimmte Energiemenge freigesetzt wird, die sich das Elektron und das Neutrino teilen müssen. Da das Neutrino selbst nicht gemessen werden kann, beobachten die Wissenschaftler die Elektronen und messen ihre Energie mit höchster Genauigkeit. Dabei interessieren sie sich für die Elektronen mit der höchsten kinetischen Energie. Denn hier würde sich der Einfluss der Neutrinos zeigen. Wenn sie eine Masse besitzen, könnten die Elektronen wegen der Äquivalenz von Masse und Energie (E=mc2) nie die gesamte Zerfallsenergie besitzen. Ein geringer Unterschied würde sich zeigen und aus diesem Unterschied könnte dann die Masse der Neutrinos abgeleitet werden.

Auch wenn das Konzept selbst relativ simpel ist, mussten für die Umsetzung des 70 Meter langen und mehrere Stockwerke hohen Experiments diverse technische Herausforderungen überwunden und sogar neue Weltrekorde aufgestellt werden. Man benötigte beispielsweise besonders reines Tritium als Neutrinoquelle, das stabil bei einer bestimmten Temperatur gehalten werden muss, und eine spezielle Transportstrecke, die nur Elektronen, aber kein Tritium durchlässt und die die Hälfte der Elektronen in Richtungen Messstelle lenkt. Herzstück von KATRIN ist jedoch der 24 Meter lange, komplett aus Edelstahl aufgebaute Hauptspektrometertank. Hier wird ein elektrostatisches Potential aufgebaut, das als Barriere für die Elektronen dient und nur solche mit hoher kinetischer Energie durchlässt. Nur eines von 100 Milliarden Elektronen erreicht den Detektor, alle anderen sind für die Messung nicht interessant. Im Hauptspektrometer herrscht das größte jemals auf der Erde erzeugte Ultrahochvakuum, das dem auf der Mondoberfläche entspricht, zudem wird eine Hochspannung von 18.600 Volt mit einer Genauigkeit von 0,01 Volt stabil gehalten. Im Detektor werden die einkommenden Elektronen dann gezählt.

KATRIN-Transport

Auf der Reise ans KIT musste das Spektrometer kurz vor dem Ziel enge Dorfstraßen passieren. Bild: KATRIN/KIT

Rekordverdächtig war auch die Reise, die das Spektrometer von der Produktionsstätte im bayerischen Deggendorf nach Karlsruhe machen musste. Eigentlich sind beide Orte nur 220 km voneinander entfernt. Wegen der Größe und des Gewichts des Tanks konnte der Transport aber nur per Schiff durchgeführt werden. Die direkte Route über Donau und Main-Donau-Kanal konnte nicht genutzt werden, da die Brücken auf dem Weg zu niedrig waren. Also musste das Spektrometer einen mehr als 8000 km langen Umweg nehmen. Erst nach einer Europatour durch Schwarzes Meer, Mittelmeer, Atlantik und Nordsee kam es in Karlsruhe an.

Nach dem Startschuss 2001 und dem ersten Spatenstich 2005 brauchte es insgesamt elf Jahre, 60 Millionen Euro und eine internationale Kollaboration von rund 150 Wissenschaftlern aus sechs Ländern, damit jetzt Mitte Oktober die gesamte Anlage für das „first light“ in Betrieb genommen werden konnte. Zum ersten Mal durchliefen Elektronen das komplette Experiment. Sie stammten allerdings noch nicht aus der Tritium-Quelle, sondern aus einer schaltbaren Elektronenquelle. Alle Systemteile und Komponenten von KATRIN spielten erstmals zusammen und werden jetzt optimal abgestimmt. Die Wissenschaftler wollen so lernen, ihre Anlage genau zu verstehen. Die Messung im Tritium-Betrieb soll im Herbst 2017 beginnen, erste interessante Ergebnisse zur Neutrinomasse werden dann bereits für Mitte 2018 erwartet. Die endgültige Sensitivität wird aber erst nach fünf Jahren Messzeit erreicht. Die Ergebnisse könnten Bedeutung für verschiedene grundlegende Fragen der Physik haben: einerseits gelten Neutrinos als mögliche Kandidaten für die Dunkle Materie, dafür dürften sie aber nicht zu leicht sein. Andererseits könnten die Befunde das allgemeine Verständnis von Masse verändern und mehr Erkenntnisse dafür liefern, wie Teilchen überhaupt Masse erhalten.

Neben dem KIT sind auch Arbeitsgruppen von den Universitäten in Münster, Wuppertal, Fulda und Bonn an KATRIN beteiligt. In Münster wurde beispielsweise das Elektrodensystem des Spektrometers gebaut und in Fulda ein magnetisches Sensornetzwerk.

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