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21.06.2016

Vom Blumenstrauß zum Higgs-Teilchen

Bonner Wissenschaftler ermöglichen genauere Vermessung des Higgs-Teilchens durch bessere Rekonstruktion der Zerfälle anderer Teilchen

schematisches Bild eines hadronischen tau-Zerfalls

Blumenstrauß - schematische Abbildung eines hadronischen tau-Zerfalls


Es ist klein, extrem kurzlebig, aber für das Verständnis der Welt von großer Bedeutung: das Higgs-Teilchen. Es wurde 2012 am Large Hadron Collider LHC am CERN entdeckt und ist das Teilchen, dass anderen Elementarteilchen ihre Masse verleiht. Allerdings lässt es sich nur durch seine Zerfallsprodukte nachweisen.

Das bedeutet, dass oft schon Jahre vor einer Veröffentlichung eines wichtigen Resultats – also z.B. der Entdeckung des Higgs-Teilchens, oder der Messung einer seiner Eigenschaften, quasi im Hinterzimmer an der Entwicklung grundlegender Messmethoden gearbeitet werden muss. Ein Beispiel für eine solche Entwicklung ist die Verbesserung der Messung von Tau-Leptonen, den schweren Partnerteilchen der Elektronen. Peter Wagner, einer der führend an der Entwicklung dieses speziellen Algorithmus beteiligten Forscher von der Uni Bonn, sagt: „Ohne diese mühsame Vorarbeit ist an die große Entdeckung oft nicht zu denken.“

Das Higgs-Teilchen kann in den Teilchendetektoren am LHC in viele Kombinationen von weiteren Teilchen zerfallen. Eine davon ist der Zerfall in schwere Geschwister des Elektrons, in die sogenannten Tau-Leptonen (Teilchen, die ähnliche Eigenschaften haben wie Elektronen, aber rund 3500 Mal schwerer sind). Dieser für die Physiker hochinteressante Zerfall ist allerdings nicht leicht zu beobachten, weil er kaum aus der Masse der Kollisionsdaten – dem sogenannten Untergrund, also anderen sichtbare Reaktionen während der Kollision – herauszufiltern ist. Tau-Leptonen sind, genau wie das Higgs, sehr kurzlebig, daher ist es schwierig sie auf direkten Wege zu entdecken. Sie zerfallen in unterschiedlichster Art. Obwohl es die Analyse aufwendiger macht, klassifizieren die Wissenschaftler jeden Zerfall, da dies viele Details aufdeckt. Dies ist zum Beispiel notwendig, um den Spin der Tau-Leptonen, eine Art Eigendrehung der Teilchen, zu bestimmen.

Wissenschaftler der ATLAS-Kollaboration von der Uni Bonn entwickelten im Laufe des Jahres 2015 zum ersten Mal einen Algorithmus, der eine präzise Rekonstruktion der einzelnen Zerfallsprodukte des Tau-Leptons ermöglicht. Diese Rekonstruktion bietet den Forschern die Gelegenheit eine enorme Verbesserung der Energie- und Richtungsauflösung des Tau-Leptons vorzunehmen. Das macht auch die Suche nach dem Higgs leichter. Außerdem lässt es Forscher noch eine andere Eigenschaft des Higgs-Teilchens untersuchen: seinen Beitrag zum kleinen Unterschied zwischen Materie und Antimaterie. Mit Hilfe des Algorithmus lassen sich Eigenschaften wie Impuls und Richtung aller aus dem Tau-Zerfall stammenden Teilchen so genau bestimmen und rekonstruieren, dass sie Rückschlüsse auf den Spin der Tau-Leptonen zulassen. Dies wiederum ermöglicht es den Wissenschaftlern, auf den sogenannte CP-Mischungswinkel des Higgs-Teilchens rückzuschließen – ein Indiz dafür, ob das Higgs-Teilchen einen Einfluss auf die sogenannte CP-Verletzung hat, die dafür verantwortlich ist, dass sich Materie und Antimaterie verschieden verhalten. Allerdings werden dafür noch sehr viel mehr Daten nötig sein, als sie bisher am LHC gesammelt werden konnten.

Erreicht werden konnte die Verbesserung nur durch eine Änderung der Strategie in der Rekonstruktion von Teilchenbündeln im Detektor: Bisher ist es an den meisten Experimenten an Proton-Beschleunigern wie dem Large Hadron Collider üblich, eng gebündelte Teilchen quasi als Ganzes zu untersuchen. Man kann sich das wie in einem Blumenstrauß vorstellen: Das Tau-Lepton zerfällt in ein enges Bündel von Teilchen, der im inneren Teil des ATLAS-Detektors Spuren der geladenen Teilchen hinterlässt, während die Energie der Teilchen weiter außen in den Kalorimetern gemessen werden. Bisher war es üblich, alle „Blumen“ in diesem Strauß gemeinsam zu messen, als ob man den ganzen Strauß einfach auf eine Waage legt und wiegt. Mit der neuen Rekonstruktion aber kann man sozusagen die Tulpen, Lilien und Rosen im Strauß unterscheiden.

In der neuen Strategie, dem sogenannten Teilchenfluss, betrachtet man den Strauß genau, so wie man das auch mit einem echten Blumenstrauß machen würde: Wie viele und wie große Rosen, wie viele Tulpen, wie viel grünes Beiwerk steckt drin und dann setzt man die Eigenschaften des Tau-Leptons aus diesen Einzelbestandteilen zusammen. Dadurch erhält man ein wesentlich besseres Bild des Blumenstraußes als mit einer Waage.

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