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08.12.2017

Verträge, Bagger und das Higgs: die Geschichte der Detektoren am LHC

ATLAS-Kaverne

Hier wurde zwanzig Jahre später das Higgs-Teilchen entdeckt. Bild: CERN

Zum Jubiläum der beiden Großexperimente am Large Hadron Collider hat weltmaschine.de mit zwei Forschern über die Geschichte der Experimente gesprochen, die an der Entwicklung von ATLAS und CMS von Anfang an beteiligt waren. Peter Jenni gilt als einer der Gründungsväter von ATLAS, er gestaltete die Entwicklung des LHC ab 1984 mit und war seit der ATLAS-Gründung 1992 erst gemeinsam mit Friedrich Dydak und danach bis 2009 alleine Sprecher und damit Projektleiter von ATLAS. Der Schweizer ist heute Honorarprofessor an der Universität Freiburg und forscht weiter an ATLAS. Thomas Müller vom Karlsruher Institut für Technologie war 1992 zwar noch in den USA und arbeitete an der UCLA in Kalifornien mit an der Vorbereitung eines anderen Beschleunigers, des Superconducting Supercolliders (SSC), der in den USA gebaut werden sollte, war aber auch schon an ersten Designideen für die LHC-Experimente beteiligt. Als das SSC-Projekt gestoppt wurde, wechselte er mit vielen anderen amerikanischen Forschern zum LHC, ab 1994 war er als Co-Sprecher der Amerikaner auch offiziell bei CMS. Er ist derzeitiger Sprecher der deutschen Forschungsgruppen bei CMS.

Die beiden LHC-Veteranen berichten von der Gründung und Entwicklung der beiden Kollaborationen, ziehen eine Bilanz der Erfolge der vergangenen Jahre – und werfen einen Blick in die Zukunft der Teilchenphysik. Doch fangen wir am Anfang an – hier wird es allerdings gleich etwas kompliziert. Denn wo setzt man bei riesigen Projekten, an denen Tausende von Menschen und Milliarden von Euro beteiligt sind, die Geburtsstunde? Gefeiert wurde in diesem Jahr das 25-jährige Jubiläum der Einreichung eines Letters of Intent am 1. Oktober 1992 durch die Vorläufer von ATLAS und CMS. Hier zeigt sich schon ein Problem: damit diese Letters of Intent eingereicht werden konnten, musste es die Kollaborationen in gewisser Form ja schon geben – denn sonst hätte ja niemand diese Dokumente schreiben und einreichen können.

Peter Jenni

Peter Jenni: Peter Jenni war von 1992 bis 2009 ATLAS-Sprecher. Bild: CERN

Genauso gut könnte man allerdings auch argumentieren, dass die eigentliche Geburtsstunde der Kollaborationen später liegt. Denn mit der Einreichung des Letters of Intent stand noch nicht fest, dass diese Kollaborationen später einen Detektor entwickeln würden. Denn es gab drei Protokollaborationen, die einen Letter of Intent einreichten, aber das L3+1-Experiment scheiterte im folgenden Auswahlprozess.

Erst mit der Aufforderung zur Einreichung eines technischen Proposals, also Designkonzepts, in dem die Konzepte für die Detektoren – Details wie ihre Funktionsweise, ihre Subdetektoren, die Materialien oder Magneten – konkret ausgearbeitet werden sollten, war klar, dass ATLAS und CMS am LHC gebaut würden. Diese Aufforderung kam aber erst 1993 nach diversen Begutachtungen. Warum also wird der 1. Oktober 1992 als Geburtsstunde betrachtet? Der Grund ist doch recht einfach: „Die Einreichung dieses Dokuments ist das erste offizielle Auftreten der Kollaborationen unter ihrem jetzigen Namen“, erklärt Peter Jenni. „Bei ATLAS war es auch so, dass sich die Kollaboration aus zwei Proto-Kollaborationen mit ähnlichen Konzepten zusammenschloss, die bis dahin noch eigenständig waren.“

Thomas Müller

Thomas Müller ist seit 1994 bei CMS und der derzeitige Sprecher der deutschen Forschungsgruppen.

Ideen für die Errichtung eines Proton-Proton-Beschleunigers im Tunnel des damals am CERN im Aufbau befindlichen Large Electron-Positron Colliders (LEP) gab es schon in den 80er Jahren. 1984 sprach man bei einem Workshop in Lausanne erstmals konkret über diese Idee. Bereits Ende der 80er bildeten sich erste Proto-Kollaborationen, in denen Forscher Konzepte für mögliche Experimente am LHC entwickelten. Diese Proto-Kollaborationen waren zwar noch nicht offiziell, aber schon sehr groß, wurden von mehreren hundert Forschern gebildet, die teilweise schon an Experimenten am Proton-Antiproton-Beschleuniger am CERN beschäftigt waren. Schon vor 1992 wurde so Forschung und Entwicklung für einzelne Bestandteile möglicher Detektoren betrieben. Im März 1992 stellten vier Proto-Kollaborationen ihre Konzepte für zwei sogenannte Universaldetektoren, die heutigen ATLAS- und CMS-Detektoren, (ALICE und LHCb kamen etwas später) auf einer Konferenz in Evian-les-Bains vor, die Ideen waren zwar noch nicht besonders ausgereift, aber schon relativ vollständig. Nach der Konferenz wurde vom CERN das LHC Committee (LHCC) ins Leben gerufen, bei dem dann bis zum 1. Oktober Letters of Intent eingereicht werden konnten.

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Frühes Konzept des CMS-Detektors. Bevor es ein fertiges technisches Konzept gab, mussten die Kollaborationen verschiedene Optionen prüfen und vergleichen. Bild: CMS / CERN

Was auch dafür spricht, den Letter of Intent als Geburtsstunde der Kollaborationen zu betrachten: nach der Einreichung fing die Arbeit erst richtig an. Bis zum Technischen Proposal, in dem schon konkret beschrieben wird, wie der Detektor aussehen könnte, waren noch mehrere verschiedene Optionen für die Bestandteile des Detektors auf dem Verhandlungstisch, unter denen die besten ausgewählt werden mussten. In Teststrahlen wurde geprüft, welche Systeme die Voraussetzungen für den Einsatz im LHC erfüllen, in Physiksimulationen spielten Wissenschaftler durch, welche Eigenschaften der Detektor haben musste.

Denn die Ziele waren für ATLAS und CMS von Beginn an klar und ähnlich: neben dem Higgs-Teilchen sollten supersymmetrische Teilchen gefunden oder ausgeschlossen werden. Das legte bestimmte Eigenschaften der Detektoren fest. „Beim Higgs mussten alle möglichen Zerfallsoptionen berücksichtigt werden, weil man seine Masse nicht kannte“, erklärt Thomas Müller. „Der Detektor musste deswegen so entwickelt werden, dass er beispielsweise ein 60 Gigaelektronenvolt schweres Higgs genauso finden würde wie ein 500 Gigaelektronenvolt schweres.“

Kranarbeiten CMS

Die Bauteile von CMS wurden oberirdisch gebaut und dann zum Zusammenbau in die Kaverne herabgelassen. Bild: CERN

Nachdem man sich für Optionen und Systeme entschieden hatte, die diese Ziele möglichst gut erfüllen, wurden die Komponenten in mehrjähriger Arbeit in den beteiligten Instituten weltweit entwickelt und gebaut. Dafür wurden verschiedene, immer realistischere Prototypen entwickelt, die getestet, optimiert und verfeinert wurden. Der eigentliche Zusammenbau der Detektoren und ihrer Anlagen dauerte auch Jahre. Für CMS mussten beispielsweise zwei Kavernen 100 Meter unter der Erde ausgehoben werden, die größere 53 Meter lang, 27 Meter breit und 24 Meter hoch. Die Aushebung der Kavernen dauerte sechseinhalb Jahre. Um währenddessen schon am Detektor bauen zu können, wurden die einzelnen Bestandteile oberirdisch zusammengesetzt, getestet und dann in die Kaverne abgesenkt. Und das mit Teilen, die bis zu 1600 Tonnen wogen.

First beam

Nach einigen Verzögerungen konnten im November 2009 erstmals Kollisionen in den Detektoren aufgezeichnet werden. Bild: ATLAS / CERN

Von der Geburtsstunde der Kollaborationen bis zum richtigen Betrieb der Detektoren dauerte es so insgesamt 17 Jahre. Im November 2009 konnten erstmals Kollisionen in den Detektoren aufgenommen werden, allerdings noch bei niedriger Energie. In der Folge ging es dann sehr schnell: im Sommer 2012 erreichten beide Kollaborationen eines der Ziele, auf das die Arbeit in den vorhergehenden Jahren ausgerichtet war: ATLAS und CMS beobachteten ein Teilchen, das über die Eigenschaften des Higgs-Teilchens verfügte. Mit dieser Entdeckung wurde der letzte fehlende Bestandteil im Standardmodell der Teilchenphysik gefunden, das die kleinsten Bestandteile und fundamentalen Kräfte unseres Universums beschreibt – bisher der wohl größte Erfolg von ATLAS und CMS.

Doch die Forschung der Kollaborationen erstreckt sich über einen deutlich größeren Bereich. „Wir konnten in den letzten Jahren fast schon eine Lawine von Resultaten zum Standardmodell veröffentlichen. Fundamentale Wechselwirkungen wurden mit einer Präzision vermessen, die früher nicht erreicht werden konnten, sodass wir die Vorhersagen des Standardmodells sehr genau prüfen konnten“, betont Peter Jenni. „Zudem konnten schon viele hypothetische Theorien, die das Standardmodell erweitern, überprüft und zum Teil ausgeschlossen werden.“ Bis zum Jubiläum haben beispielsweise Analysen von ATLAS-Daten zu 681 wissenschaftlichen Veröffentlichungen geführt, Mitte November gab es die 700. Veröffentlichung von CMS.

Higgs Pressekonferenz

Der (bisher) größte Erfolg des LHC: im Juli 2012 können die Forscher verkünden, dass sie ein Teilchen mit den Eigenschaften des Standardmodell-Higgs-Teilchens beobachtet haben.

Einen anderen großen Erfolg der Kollaborationen (wie auch des LHC insgesamt) kann man nur bedingt in veröffentlichten Resultaten messen: „Herausragend ist, dass so ein unglaublich kompliziertes elektronisches Gebilde durch hunderte von Instituten aus einer Vielzahl von Nationen entwickelt und gebaut werden konnte“, sagt Thomas Müller. „Beim Zusammenspiel dieser vielen Nationen könnte es genug Hindernisse geben. Das fängt schon dabei an, dass es zum Beispiel unterschiedliche Abrechnungssysteme in den einzelnen Ländern gibt. Aber es funktioniert, und das finde ich wirklich großartig.“

Dafür, dass in der Teilchenphysik so gut funktioniert, was in anderen Bereichen so kompliziert erscheint, gibt es verschiedene Gründe. Einerseits eint alle am Projekt Beteiligten natürlich ein gemeinsames Ziel, das als Motivation dient. Nur zusammen konnten die Forscher die Detektoren bauen und die Forschung betreiben, um den großen offenen Fragen der Physik auf den Grund zu gehen. Ganz praktisch ermöglicht aber auch das spezielle Modell, in dem die Forschung organisiert wird, die erfolgreiche Zusammenarbeit. Es gibt zwar ein zentrales Management, bei dem die Fäden zusammenlaufen, Regelungen werden aber im Konsens getroffen und die Organisationsstruktur so leicht wie möglich gehalten.

„Das größte Kompliment für mich als Projektleiter war immer, wenn Forscher zu mir kamen und berichteten, wie begeistert sie waren, ohne richtige Organisationsstruktur arbeiten zu können – wobei es diese Strukturen natürlich gab, sie wurden nur nicht so wahrgenommen“, sagt Jenni. Das liegt auch daran, dass sich die einzelnen Gruppen, die an der Forschung beteiligt sind, nach einem föderalen Prinzip selbst organisieren und so ihre eigenen Ideen gut einbringen können. Anders wäre es auch schwer umsetzbar, werden doch immer viele Analysen auf verschiedenen Gebieten gleichzeitig durchgeführt.

25 Jahre CMS

CMS-Mitglieder feiern das 25-jährige Jubiläum der Kollaboration. Bild: CMS / CERN

Nach 25 Jahren insgesamt und knapp acht Jahren Forschung am LHC ist die Arbeit der Kollaborationen aber immer noch fast am Anfang. Von der Anzahl der Daten wurden bis jetzt ungefähr 3% von dem gesammelt, was insgesamt aufgezeichnet werden soll. Um auf die 100% zu kommen, müssen sowohl der LHC selbst als auch die Detektoren in den nächsten Jahren erneuert und verbessert werden. Deswegen gibt es im kommenden Betrieb des LHC immer wieder Pausen, in denen Teile ausgetauscht und Upgrades an einzelnen Detektorsystemen vorgenommen werden.

Auf längere Sicht sollen der Beschleuniger und damit die Detektoren noch bis ungefähr 2035 in Betrieb bleiben. Und wofür das alles, wenn das ursprüngliche Hauptziel mit der Entdeckung des Higgs-Teilchen schon erfüllt wurde? „Ich wähle für die jetzige Situation der Teilchenphysik gerne das Bild des Eiskunstlaufens“, erklärt Peter Jenni. „Mit dem Bau des Experiments und der Entdeckung des Higgs haben wird das Pflichtprogramm geschafft, jetzt kommt die Kür.“ Mit dem Higgs-Teilchen ist zwar das Standardmodell der Teilchenphysik vollständig, aber es kann unser Universum nicht vollständig beschreiben. Beispielsweise kann man mit den im Standardmodell enthaltenen Teilchen nur einen Bruchteil der Materie im Universum erklären.

Die Teilchenphysiker untersuchen deswegen jetzt Theorien, die über das Standardmodell hinausgehen und vollständigere Erklärungen bieten können. Hier gibt es aber wenige klare Voraussagen, die man prüfen könnte, wie es beim Higgs war. „Eine Hoffnung, die wir haben, ist es, in irgendeiner Form supersymmetrische Teilchen zu finden. Da ist es aber unklar, in welchem Massebereich solche Teilchen zu finden wären. Wir brauchen jetzt nicht naiv zu glauben, dass wir in den nächsten zwei Jahren plötzlich sagen können, dass es etwas Neues in der Natur gibt. Jetzt brauchen wir Geduld und einen langen Atem“, betont Müller.

Die Geduld wird dann vielleicht auch so lange reichen müssen, bis es ein noch leistungsfähigeres Nachfolgeprojekt für den LHC gibt. Schon jetzt wird beispielsweise an Magneten mit höherem Feld geforscht, damit die Teilchen auf größere Energie beschleunigt werden könnten. Es gibt Vorschläge für verschiedene Nachfolgeprojekte, beispielsweise für einen noch größeren Ringbeschleuniger am CERN, den Future Circular Collider (FCC) oder für einen Linearbeschleuniger in Japan, der Elektronen und Positronen kollidieren lassen würde, den International Linear Collider (ILC). Allerdings sind beide Vorschläge bis jetzt nur Konzepte, bei denen unklar ist, ob oder in welcher Form sie in die Realität umgesetzt werden.

Geburtstagskuchen

Happy birthday ATLAS und CMS! Bild: CERN

Bis irgendwann das nächste Projekt den LHC ablöst, stehen aber noch viele Jahre der Forschung bevor. Nach 25 erfolgreichen Jahren geben die Forscher den Experimenten noch zwei Wünsche für die Zukunft mit: „Ich wünsche ATLAS, dass die Kollaboration weiterhin solche hochwertigen Daten liefert und ermöglicht, dass junge Forscher mit viel Kreativität ihre Analysen voranbringen. Diese Analysen gehen schon jetzt viel weiter, als alles, was wir vor 25 Jahren vorhergesehen hatten“, sagt Peter Jenni. Und Thomas Müller meint: „Das größte Geschenk für die Teilchenphysik wäre es, wenn in den nächsten Jahren Andeutungen für neue Physik gefunden würden, sodass dann vielleicht ein neuer Großbeschleuniger beschlossen wird, der der Sache nachgehen kann.“

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