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27.08.2020

Den Teilchenschauern auf der Spur

Sie hat eine Leidenschaft fürs Rätsellösen: Çiğdem İşsever

Wissenschaftlerin Cigdem Issever

Die Wissenschaftlerin Cigdem Issever hat von der Uni Oxford nach Berlin gewechselt und will in Deutschland den wissenschaftlichen Nachwuchs fördern. Bild: DESY

Kollision: zwei Protonen krachen aufeinander und Detektoren zeichnen Spuren der erzeugten Teilchen auf. Die Kollisionsenergie wird in Materie und kinetische Energie umgewandelt. Unter den vielen Bahnen der erzeugten Teilchen, die durch den Detektor rasen, erscheinen aus dem scheinbaren Chaos mehrere charakteristische Bündel: Jets. Die Untersuchung dieser Jets ist Çiğdem İşsevers Spezialgebiet. İşsever ist Forscherin am ATLAS-Experiment am CERN in der Schweiz und wurde kürzlich zur Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin berufen. „Jets sind ständige Begleiter in meiner Karriere“, sagt İşsever, die auch Leitende Wissenschaftlerin bei DESY in Zeuthen ist.

Bei einer Teilchenkollision am Large Hadron Collider (LHC) am CERN werden verschiedene Arten von Elementarteilchen erzeugt, die über Wechselwirkungen mit der Materie in den Detektoren Teilchenschauer erzeugen und dabei ihre Energie in den Detektoren deponieren. Je nach Art und der Anfangsenergie des Teilchens sehen diese Teilchenschauer verschieden aus. „Es ist wie ein Wasserstrahl aus einem Gartenschlauch“, erklärt İşsever. „Mit je mehr Druck das Wasser den Schlauch verlässt, desto kollimierter ist der Wasserstrahl und der Wasserstrahl kann größere Distanzen zurücklegen; je weniger, desto mehr spritzt und verteilt er sich zu den Seiten und kommt auch nicht so weit.“ Teilchenschauer werden auch Jets genannt. Sie werden durch Quarks oder Gluonen erzeugt, und ihre Identifikation als solche und die Rekonstruktion der Energie, die in den Jets deponiert wurde, ist ein sehr schwieriges Unterfangen. İşsevers Aufgabe ist es, mit Hilfe der Daten aus den Jets die Eigenschaften der ursprünglichen einzelnen Teilchen zu entwirren und so tiefere Informationen über die Kollision selbst zu erhalten. Ihr Spezialgebiet ist die Untersuchung von Higgs-Teilchen, die in zwei Bottom-Quark-Jets zerfallen. Dieser sogenannte Higgs-bb-Zerfall ist einer der klassischen Marker zur Identifizierung des Vorhandenseins eines Higgs-Teilchens nach einer Kollision am LHC.

ATLAS-Kollision

Bei einer Teilchenkollision entstehen Teilchenschauer, denen Issever auf den Grund geht. Bild: ATLAS / CERN

İşsever hat Freude daran, extrem komplexe Rätsel zu lösen. Als Mitglied der H1-Kollaboration am HERA-Beschleuniger bei DESY hat sie in den 1990er Jahren während Ihrer Diplomarbeit einen Algorithmus zur Energierekonstruktion der Jets entwickelt. Dieser Algorithmus war nicht nur für das H1-Experiment nützlich, sondern es ist einer der Algorithmen, die auch heute im ATLAS-Experiment zur Rekonstruktion der Jetenergien verwendet wird. Als Doktorandin hat sie so die Struktur des Protons mit Hilfe von HERA Daten erforscht. „Es war ein unglaubliches Gefühl zum ersten Mal aus den Daten neue Kenntnisse über das Innere des Protons zu extrahieren, über die Natur etwas Neues zu lernen. Ich kann dieses Gefühl immer noch nicht richtig beschreiben. Es geht einher mit großer Freude und „Demut“, sagt die Forscherin.

ATLAScraft header

Issever hat an der TU Dortmund Physik studiert und Forschungserfahrungen bei DESY und Fermilab in den USA gesammelt. Ihr Talent fürs Detail brachten sie nach Oxford, wo sie Professorin wurde und sich dem ATLAS-Experiment anschloss. Die Teilchenphysik ist ein sehr internationales Fachgebiet. Wissenschaftler*innen, Techniker*innen und Ingenieure*innen aus aller Welt arbeiten in riesigen Kollaborationen von bis zu 3000 Personen zusammen. „Und das hat mir an der Teilchenphysik immer gefallen“, erklärt sie. „Es ist egal, woher man kommt. Deine Nation und Deine Herkunft sind in der Teilchenphysik nicht wichtig.“

Detektor in Minecraft

Kinder und Jugendliche dort abholen, wo sie gerne sind: eins ihrer Projekte ist der Nachbau des ATLAS-Detektors mit intergrierten interaktiven Elementen im Computerspiel Minecraft. Bild: ATLASCraft

In Oxford arbeiteten İşsever und ihr Ehemann mit Grundschulen zusammen, um Schüler und insbesondere Schülerinnen schon im Grundschulalter für Physik und Wissenschaft zu interessieren. Sie hofft, dies jetzt in Deutschland fortzusetzen. „Wenn sie älter sind, ist es ein bisschen zu spät - ich denke, es ist am besten, auf die Schüler*innen zuzugehen, wenn sie noch nicht in Stereotypen denken.“, sagte sie. Zusammen mit Schülern und Schülerinnen aus Schulen in Oxford und Umgebung bauten sie zum Beispiel das ATLAS-Experiment und den LHC in Minecraft (genannt „ATLAScraft“), das als Erkundungs- und Spielentwicklungswerkzeug für junge Schülerinnen und Schüler funktioniert. In ATLAScraft kann man CERN und das ATLAS-Experiment erkunden und mit Hilfe von Spielen mehr über die Teilchenphysik lernen.

Im Einklang mit ihrer Arbeit mit zukünftigen Forscherinnen und Forschern sagt sie, dass einige ihrer stolzesten Momente sind, wenn sie sieht, dass die von ihr ausgebildeten Student*innen Erfolg haben. „Ich liebe es zu sehen, wenn es exzellente Leute schaffen, sich im Fachgebiet zu etablieren“, sagt sie. „Wir brauchen diese Talente, um weiter in unerforschte Bereiche der Teilchenphysik zu stoßen. Es gibt noch so viele ungelöste Rätsel.“

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