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16.07.2020

Neutrino-Physikerin mit einem Faible für Berge

Livia Ludhova jagt Neutrinos und erklimmt Berge

Livia Ludhova

Die Neutrino-Physikerin Livia Ludhova, Professorin an der RWTH Aachen und am FZ Jülich, sucht in Borexino in den italienischen Apenninen nach den gespenstischen Teilchen, die aus dem Inneren der Sonne kommend, durch die Erde hindurch rasen. Dabei hilft ihr an einem solchen Ort, dass sie auch Geologin ist. (Bild: FZ Jülich)

Als Kind las Livia Ludhova ein Buch über das Universum von dem tschechischen Wissenschaftsautor Josip Kleczek. Darin lernte sie verschiedene Möglichkeiten kennen, das Universum zu erforschen, von Elementarteilchen bis hin zu riesigen Galaxien und Nebeln. Später machte sie Reisen in die Tatra in ihrer Heimat, der Slowakei zu unternehmen und entdeckte ihre Liebe zur Geologie. Heute arbeitet Ludhova, Professorin für Physik an der RWTH Aachen und am Forschungszentrum Jülich, in einer anderen Bergregion: in den Apenninen in Italien, wo im Labor Gran Sasso eine Reihe von Teilchenphysikexperimenten steht. Das Experiment „Borexino“, an dem sie seit 2005 arbeitet, untersucht Neutrinos: geisterhafte Teilchen, die bei Reaktionen zwischen Elementarteilchen als Teil der schwachen Wechselwirkung entstehen. Viele Neutrinos kommen aus der Sonne, wo ja auch Fusion stattfindet, und können wichtige Hinweise darauf tragen, was tief im Inneren des Sonnenkerns geschieht.

Ludhova fand erst über Umwege zu den Neutrinos. Ihre Reisen in die Tatra inspirierten sie so sehr, dass sie tatsächlich Geologie studierte. Im Jahr 1998 promovierte sie an der Comenius-Universität in Bratislava über ihre Untersuchungen über die Temperatur- und Druckentwicklung metamorpher Gesteine in der Tatra. Im Laufe ihres Studiums merkte sie jedoch, dass sich ihre Arbeit zunehmend mit Physik beschäftigte. „Ich dachte ich werde nie wirklich etwas von dieser Physik verstehen... Ich muss zu den Wurzeln dieser geologischen Prozesse gelangen! Also musste ich wieder bei null anfangen“, sagt sie. Während sie ihren Doktortitel in Geologie erwarb, begann sie auch ein Studium der Teilchenphysik an der Comenius-Universität und schloss 2005 einen zweiten Doktortitel an der Universität Fribourg in der Schweiz zum Thema Spektroskopie exotischer Atome ab.

In den Bergen

Ludhova in ihrer Lieblingsgegend, den Bergen. (Bild: Livia Ludhova)

Ludhova sagt, dass ihr geologisches Hintergrundwissen bei Borexino hilfreich war, einem riesigen unterirdischen Tank, der mit 280 Tonnen funkelnder Flüssigkeit gefüllt und von Lichtsensoren umgeben ist. Zusätzlich zum Nachweis von solaren Neutrinos, die durch Kernreaktionen in der Sonne erzeugt werden, beobachtet Borexino auch Geoneutrinos, die durch radioaktiven Zerfall instabiler schwerer Elemente wie Uran und Thorium entstehen. Die bei diesen radioaktiven Zerfällen freigesetzte Wärme hat einen großen Einfluss auf die geologischen Prozesse auf der Erde. „Die Geologie gut zu kennen ist wirklich ein Privileg auf diesem Forschungsgebiet“, sagt sie. Gleichzeitig beobachtet sie Prozesse außerhalb der Erde, die sich gar nicht so sehr von denen unterscheiden, die Josip Kleczek, der selbst Sonnenphysiker war, in seinem Buch ihrer Jugend geschrieben hat.

Ihre Liebe zur Wissenschaft ist nach wie vor groß. „Es mag auf den ersten Blick nicht so aussehen, aber die Geologie ist so viel komplizierter als die Physik, weil es so viel mehr Parameter gibt, die alles andere beeinflussen“, sagt sie. „Aber die Physik ist die Grundlage aller Prozesse, auch der geologischen. In der Physik kann man die Dinge oft in relativ einfache und gut definierte Probleme zerlegen, während es in der Geologie unglaublich komplizierte Randbedingungen gibt, die schwer zu modellieren sind.“

Borexino

Die Detektoren im Hauptkammer des Borexinos. (Bild: Die Borexino-Collaboration)

Nun würden manche Leute sagen, dass es viel weniger kompliziert ist, unsichtbare Teilchen zu untersuchen, die kaum mit Materie wechselwirken, als riesige Berge zu untersuchen. Es ist tatsächlich so unwahrscheinlich, dass Neutrinos mit Materie wechselwirken, dass, wie Ludhova es ausdrückt, „jede Sekunde 10 Milliarden Neutrinos durch Ihren Daumen durchfliegen“. Man merkt nicht, dass sie durch einen hindurchgehen. Sie interagieren nicht elektromagnetisch, so dass wir sie nicht mit unseren eigenen Augen sehen können. Die schwache Wechselwirkung ist so schwach, dass sie sich kaum je selbst aktiviert, um ein vorbeifliegendes Neutrino zu greifen.

Das bedeutet natürlich, dass Neutrinos einige besondere und bizarre Tricks auf Lager haben. Für Ludhova und das Borexino-Experiment ist es so, dass sich Neutrinos in gewisser Weise schneller bewegen als das Sonnenlicht, neben dem sie erzeugt werden. Das bedeutet nicht, dass sich Neutrinos schneller bewegen als das Licht - das ist definitiv nicht der Fall. Aber im Gegensatz zu Neutrinos kann Licht mit Materie wechselwirken. Da die Kernreaktionen, bei denen Sonnenlicht erzeugt wird, tief im Kern der Sonne ablaufen, muss das Licht über eine Million Kilometer durch dicht gepacktes, heißes Gas reisen, was das Licht fast auf Kriechtempo verlangsamt. Neutrinos haben keine derartigen Probleme mit Materie – sie fliegen einfach ungehindert durch.

Die Sonne

Die Neutrinos, die von Ludhova untersucht werden, können viele Hinweise auf Prozesse im Sonnenkern liefern. (Bild: NASA/SDO)

„Weil es so unwahrscheinlich ist, dass Neutrinos eine Wechselwirkung mit Materie haben, dauert es acht Minuten, bis sie vom Kern der Sonne zur Erdoberfläche gelangen“, sagt Ludhova. „Aber für das Licht, das als Gammastrahlen im Kern der Sonne erzeugt wird, dauert es 100.000 Jahre, bis es in die obere photosphärische Schicht der Sonne gelangt und aus ihr entweicht, so dass wir es sehen können.“

Das macht Neutrinos zu außergewöhnlichen Boten, die ergänzenden Informationen über das Sonnenlicht transportieren, das sonst erst in weiteren 100.000 Jahren zu uns gelangen wird. Das bedeutet, dass wir sehen können, wie die Sonne funktioniert, lange bevor das sichtbarere Sonnenlicht uns die gleiche Geschichte erzählen kann.

Sonnenenergie wird durch Kernfusion erzeugt, bei der sich vier Protonen zu Helium-4-Kernen verbinden. Dank Experimenten wie Borexino können wir nicht nur verifizieren, dass es tatsächlich die Kernfusion ist, die die gewaltige Energie liefert, die die Sonne und andere Sterne ausstrahlen, sondern wir können auch Beweise für bestimmte Sonnenfusionsprozesse sehen. „Indem wir die Anzahl der von den Neutrinos und dem Licht emittierten Teilchen vergleichen, können wir erstens sehen, ob sie übereinstimmen, und zweitens, ob die Reaktionen der Sonne im Laufe dieser 100.000 Jahre stabil sind“, sagt Ludhova. Auf diese Weise ermöglichen die von Borexino nachgewiesenen Neutrinos einen fast lebendigen Blick ins Innere der Sonne. „Wir können die Sonne beobachten, nur um zu überprüfen, ob sie noch funktioniert“, lacht sie.

Ludhova in der Antarktis

Ludhova auf einer Reise in die Antarktis. (Bild: Livia Ludhova)

Wie bei vielen Neutrino-Detektoren hilft die große Größe Borexinos, mehr Neutrinos abzufangen, während sie passieren, und seine Sensoren erkennen die geladenen Teilchen, die durch die Wechselwirkungen mit der szintillierenden Flüssigkeit im Inneren erzeugt werden. Borexino ist auch der strahlungsreinste Neutrinodetektor der Erde, was bedeutet, dass die Radioaktivität in der szintillierenden Flüssigkeit und ihrer unmittelbaren Umgebung weitaus geringer ist als unter normalen Umgebungsbedingungen, und dass Neutrino-Signale viel klarer abgelesen werden können. Ludhova hat sich auch einer weiteren Neutrino-Detektoranlage namens „JUNO“ angeschlossen, die sich in Jiangmen in Südchina im Bau befindet. JUNO ist etwa 60 Mal so groß wie Borexino, und sein Hauptziel wird es sein, die Neutrino-Massenordnung zu bestimmen, die die Rangfolge der drei bekannten Neutrino-Flavours vom leichtesten bis zum schwersten zeigen würde. Neutrinos haben ihre eigenen Einzelmassen, aber es ist immer noch nicht bekannt, ob der dritte Massenwert schwerer oder leichter als die beiden anderen Massen ist. Eine solche Information hat wichtige Konsequenzen und ermöglicht die Bestimmung mehrerer, noch unbekannter Neutrinomerkmale. Ein Detektor von der Größe und der Leistung von JUNO hat ein breites Forschungspotenzial in vielen anderen Bereichen der Neutrino- und Astroteilchenphysik, einschließlich der Untersuchung von Sonnen- und Geoneutrinos wie Borexino.

All diese Projekte bedeuten, dass Ludhova in den kommenden Jahren viel zu tun haben wird. Während sie bei Borexino weiterhin Daten aufnimmt, freut sie sich bei JUNO auch auf Experimente in China, für die ihre Gruppe am FZ Jülich einen diagnostischen Detektor kalibriert und die Rekonstruktionsmethoden und das physikalische Potenzial für die neue Anlage untersucht. Außerdem will sie sich mehr Zeit für die Kommunikation der Relevanz von Grundlagenforschung und neugiergetriebener Forschung nehmen. Zwischendurch wird sie aber auch etwas Zeit finden, um sich zu entspannen. Und wo? Sie lacht: „Wandern in den Bergen.“

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