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25.05.2020

Teilchenphysik in Zeiten von Corona

Teilchenphysiker*innen setzen sich für die Bekämpfung von COVID-19 ein

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Ein als Demogorgon bezeichnetes Protein, dessen Struktur und Mechanismus durch Folding@Home aufgeklärt wurde und das es dem Coronavirus SARS-CoV-2 ermöglicht, Zellen zu infizieren. Mehrere Rechenzentren in Deutschland, die normalerweise für die Teilchenphysik genutzt werden, führen dieses Programm durch, das helfen soll, neue Medikamententargets für das Virus zu finden. (Bild: Folding@Home Collaboration)

Wie funktioniert ein internationales Arbeitsfeld wie die Teilchenphysik in einer Zeit, in der Reiseverbote, Home Office und Videokonferenzen immer mehr zur Normalität werden? Während die Physikerinnen und Physiker ihre gewohnte Arbeit fortführen, stellen viele auch ihre speziellen Fähigkeiten und Werkzeuge für den Kampf gegen die COVID-19-Pandemie zur Verfügung.

Anfang April 2020 hätte ein CMS-Kooperationstreffen in Genf stattfinden sollen. Wie so viele andere Veranstaltungen auf der ganzen Welt wurde sie durch die COVID-19-Pandemie gehörig durcheinander gebracht. Da die internationalen und oft sogar die Binnengrenzen geschlossen waren, Quarantänebestimmungen galten, die Krankenhäuser überfüllt waren und die Menschen in ihren Häusern bleiben mussten, bot sich keine Gelegenheit für eine Großveranstaltung, ganz zu schweigen von einer Veranstaltung, bei der die Menschen von weit her anreisen mussten.

Stattdessen fand die CMS-Kollaborationswoche virtuell statt. Vierhundert Menschen aus der ganzen Welt nahmen per Videokonferenz teil. Lutz Feld, der Sprecher des Forschungsschwerpunktes CMS in Deutschland und Professor für Physik an der RWTH Aachen, beschrieb wie das Ganze abgelaufen ist: „Eine Herausforderung bei Kollaborationstreffen per Video ist natürlich, dass die Teilnehmer in ihren eigenen Zeitzonen bleiben. Wir haben Gruppen aus Asien, Europa und Amerika, da gibt es keine Zeit am Tag, zu der alle normalerweise arbeiten. Dieses Problem haben wir entschärft, indem wir die Sitzungen aufgezeichnet haben, sodass sie sich jeder zu einer sinnvollen Tageszeit ansehen kann.“

Das CMS-Kollaborationstreffen war bei weitem nicht das Einzige, das virtuell stattfand. Tägliche Meetings, Videocalls und Konferenzen am Laptop sind plötzlich Bestandteil des Alltags. Lustige Zoom-Hintergründe gehören nun zum Zeitgeist, ebenso wie Kinder, die in wichtige Sitzungen reinplatzen, während ihre Eltern ohnehin den Heimunterricht und ihre beruflichen Verpflichtungen unter einen Hut bringen müssen. Laut Feld sei eine weitere Herausforderung, „dass man den ganzen Tag nahtlos mit Videokonferenzen füllen kann. Es gibt keine natürlichen Pausen mehr, in denen man von einem Raum zu anderen gehen muss oder auf Reisen ist. Da muss man selbst genug Pausen in den Tagesablauf einbauen.“ Manchmal ist das leichter gesagt als getan. Wo früher eine Kaffeepause gemacht wurde, wird jetzt dem Sohn oder der Tochter geholfen, das Heilige Römische Reich oder Polynome zu verstehen.

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Gesichtsschutzschild aus dem Werkstatt bei DESY. Andere Physikwerkstätten in Deutschland und Europa, die normalerweise für alles von der Elektronik bis zu Detektoren genutzt werden, wurden für den Bau von Atemschutzgeräten und persönlicher Schutzausrüstung umgerüstet. (Bild: DESY)

Für viele Institute und Forschungszentren in Deutschland bot die besondere Corona-Situation eine Gelegenheit, die in der Teilchenphysik üblichen Werkzeuge im Kampf gegen das Virus einzusetzen. Der Großteil der europäischen Teilchenphysikinstitute arbeitet eng mit dem CERN zusammen. „CERN Against COVID-19“ ist eine spezielle internationale Task Force, die dazu beitragen soll, die Bemühungen zur Bekämpfung des Virus zu bündeln. Sie hat am CERN zahlreiche Projekte ins Leben gerufen, darunter den Bau von Beatmungsgeräten aus kostengünstigen und leicht verfügbaren Materialien. Inspiriert davon rüstete zum Beispiel auch die Teilchenphysikabteilung von DESY ihre Hamburger Werkstatt um und versammelte Freiwillige aus dem gesamten Institut, um mehr als 2000 Gesichtsschilder zu bauen, die anschließend dem medizinischen Personal zur Verfügung gestellt wurden. Beate Heinemann, Wissenschaftlerin in DESYs ATLAS-Gruppe, Physikprofessorin an der Universität Freiburg sowie Mitglied der Task Force CERN Against COVID-19, leitete die Arbeiten.

„Das ist alles komplettes Neuland für mich“, sagte Heinemann. „Als Wissenschaftlerin kann ich ganz gut organisieren, aber eine Produktreihe aus der Taufe heben ist dann doch eine ganz neue Erfahrung. Zum Glück kam von vielen Seiten bei DESY tatkräftige Unterstützung, ohne die das nie möglich gewesen wäre.“

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Rechenzentren wie das am CERN können komplexe Berechnungen, wie die hinter dem Zusammenbau viraler Proteine, durchführen. (Bild: Maximilien Brice; Julien Marius Ordan / CERN)

Ein weiteres Kernprojekt, das das CERN zusammengestellt hat, ist die alternative Nutzung der Serversysteme, die normalerweise Colliderdaten rekonstruieren und massive Berechnungen „on the fly“ durchführen. Über 10.000 CPU-Kerne am CERN arbeiten nun stattdessen über das US-amerikanische Programm „Folding@Home“ daran, komplexe Proteinfaltungsberechnungen durchzuführen. Beide Programme verwenden Computerprozessoren, die weltweit über das Internet verteilt sind, um mögliche Bewegungen, Orientierungen und interne Strukturen von extrem komplexen Biomolekülen zu berechnen, die die Interaktion von Hunderttausenden von Atomen beinhalten können. Die Supercomputer am CERN liefern den potenziellen Bauplan für die Identifizierung von Schwachstellen in der molekularen Maschinerie und Struktur des Virus und helfen so, die Entwicklung von Medikamenten voranzutreiben, die die Pandemie zum Stillstand bringen und Leben retten könnten - und sie haben deutsche Institute um Hilfe gebeten.

Mehrere Datenverarbeitungs-„Computerfarmen“, die normalerweise für die Fernverarbeitung von Colliderdaten verwendet werden, betreiben jetzt Folding@Home. Teilchenphysikerinnen und -physiker an mehreren Universitäten, darunter der LMU München, die Universität Göttingen und das Karlsruher Institut für Technologie, haben die Folding@Home auf ihren Computerfarmen installiert. „Ein Mitarbeiter bei DESY, David South, und ich haben Betriebs- und Koordinationsrollen im Distributed Computing bei ATLAS, sodass wir in der Lage waren, dies schnell und nachhaltig zu ermöglichen“, sagt Rod Walker, Forscher an der LMU München. „Obwohl wir in keiner Weise mit den Besonderheiten der wissenschaftlichen Forschung zu COVID vertraut sind, sind wir überzeugt, dass sie nicht durch mangelnde Rechenleistung behindert werden sollte.“

Da die Pandemie eine Vielzahl von Herausforderungen für die Gesellschaft bringt, tut die Teilchenphysik ihr Möglichstes, um das Virus hinter den Turbulenzen zu bekämpfen. Es ist unklar, ob sich die Forschungswelt bald wieder normalisieren wird, aber bis dahin versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland und in der ganzen Welt ihr Bestes, um mit ihren einzigartigen Fähigkeiten zu helfen, das Schiff sicher durch den Sturm zu lenken.

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