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10.11.2016

Mit Blei-Ionen zurück in die Frühzeit des Universums

Blei-Proton-Kollision

Seit heute wieder auf dem LHC-Stundenplan: Kollisionen zwischen Protonen und Blei-Ionen. Bild: CERN / ALICE

Heute hat der Large Hadron Collider (LHC) seine Teilchenart gewechselt: ab sofort kreisen auch Blei-Ionen im 27 Kilometer langen Beschleunigertunnel. Der LHC am CERN ist vor allem für die Experimente mit Protonenkollisionen bekannt. Die großen Experimente ATLAS und CMS sind darauf spezialisiert und auch das bisher spektakulärste Resultat der LHC-Forschung, die Entdeckung des Higgs-Teilchens, ist das Ergebnis von Kollisionen zwischen Protonen. Einmal im Jahr werden jedoch ganz andere Teilchen in den Beschleuniger geschickt. Für vier Wochen werden Schwerionen beschleunigt, die etwa 208-mal schwerer sind als Protonen. Jetzt ist es wieder soweit: seit heute und laut Plan bis Anfang Dezember kollidieren Blei-Ionen (Kerne von Bleiatomen) und Protonen im LHC. Nach den Blei-Blei-Kollisionen im letzten Jahr ist es das zweite Mal im Run 2 des LHC, dass Schwerionenversuche durchgeführt werden. Auch wenn alle großen Experimente bei diesen Kollisionen Daten aufzeichnen, ist eines besonders auf Schwerionen spezialisiert. Die ALICE-Kollaboration betreibt den ALICE-Detektor (ALICE=A Large Ion Collider Experiment), der für die Untersuchung des sogenannten Quark-Gluon-Plasmas optimiert ist.

In diesen Experimenten wird ein Materiezustand nachgebildet, wie er in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall geherrscht haben muss. Durch die Kollisionen entstehen im Reaktionsvolumen für einen kurzen Moment Temperaturen, die 100.000-mal höher sind als im Inneren der Sonne. Dadurch findet ein Phasenübergang statt, die Teilchen schmelzen sozusagen, das Quark-Gluon-Plasma bildet sich. Normalerweise sind Quarks immer in größeren Teilchen wie Protonen oder Neutronen durch die Gluonen, Träger der starken Wechselwirkung, gebunden. In diesem Plasma aber sind Quarks und Gluonen nicht mehr gebunden und bewegen sich frei. Ein solcher Zustand muss auch kurz nach Entstehen des Universums bestanden haben. Dr. Rainer Schicker von der Universität Heidelberg und Mitglied der ALICE-Kollaboration erklärt das Vorgehen so: „Unseren Berechnungen zufolge muss dieser Zustand in der Anfangsphase des Universums existiert haben, wir haben aber keinen Zugang mehr darauf. Wenn wir ihn jetzt im Labor generieren können, haben wir die Möglichkeit, seine Eigenschaften zu untersuchen und vielleicht völlig neue Dinge zu entdecken, an die wir bisher nicht gedacht haben.“

Damit die Experimente überhaupt durchgeführt werden können, müssen am LHC diverse Umstellungen vorgenommen werden. Zusätzlich zu der Wasserstoffflasche, die die Protonen liefert, muss eine Bleiquelle zur Verfügung gestellt werden. Auch der gesamte Beschleunigerzyklus samt Strahloptik mit den verschiedenen Magneten muss auf den Bleistrahl umgestellt werden. Besonders kompliziert sind diese Veränderungen, wenn zwei asymmetrische Strahlen (also Strahlen mit unterschiedlichen Ruhemassen der Strahlteilchen) im LHC kreisen, wie es jetzt mit einem Protonen- und einem Blei-Ionenstrahl der Fall ist. Die Beschleunigerabteilung am CERN –bestehend aus absoluten Topexperten in ihrem Fach – sorgt dafür, dass bei der Umstellung alles klappt.

ALICE

Der ALICE-Detektor ist spezialisiert auf Kollisionen von Blei-Ionen. Bild: CERN

Die Schwerionenkollisionen am LHC werden abwechselnd nur mit Blei-Ionen und mit Protonen und Blei-Ionen durchgeführt. Dadurch gewinnen die Forscher möglichst viele Erkenntnisse, denn die beiden unterschiedlichen Kollisionssysteme liefern Ergebnisse, die sich gegenseitig ergänzen. Bereits 2013 gab es Versuche mit Proton-Blei-Kollisionen, in diesem Jahr werden die Teilchen jedoch zu einer deutlich höheren Kollisionsenergie beschleunigt. Dadurch erwartet man, dass die Temperatur und somit die Eigenschaften des produzierten Plasmas sich verändern. Die Forscher hoffen daher, mehr und genauere Aussagen über die Eigenschaften des Quark-Gluon-Plasmas machen zu können. Um innerhalb der zur Verfügung stehenden Dauer des Strahlbetriebs möglichst viel zu lernen, werden die Protonen und die Blei-Ionen in den nächsten vier Wochen auf zwei unterschiedliche Energien beschleunigt und zur Kollision gebracht. Eine Vielzahl von Analysen sind geplant, in denen Art und Anzahl der produzierten Teilchen, ihr Impuls und ihre Winkelverteilung untersucht werden. Was sich genau aus diesen Untersuchungen ergeben wird, ist noch offen: „Die Physik ist im Wesentlichen immer getrieben von experimentellen Daten. Wir erwarten eine gewisse Systematik, aber wie sich das Quark-Gluon-Plasma dann im Einzelnen verhält, das überlassen wir den Daten“, erklärt Rainer Schicker.

Kurz nach Beginn dieser Proton-Blei-Kollisionen gibt es ein Jubiläum am CERN. Das Forschungszentrum feiert 30 Jahre Schwerionenexperimente. Am 9. November findet ein Symposium statt, auf dem sich führende Experten dieser Forschungsrichtung treffen und Vorträge zu Vergangenheit und Zukunft der Versuche mit Schwerionen hören. Wenn am LHC Anfang Dezember dann die jährliche technische Pause beginnt, müssen die ALICE-Forscher fast zwei Jahre auf neue Ionenkollisionen warten – erst 2018 gibt es wieder Experimente mit Blei-Ionen.

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