Neutrinos: Auf den Spuren der Geister des Universums

IceCube in der Antarktis

Das IceCube-Labor in der Antarktis, eines von mehreren großen Neutrino-Experimenten, an denen deutsche Institute intensiv mitarbeiten.

1930, Zürich: Inmitten gewaltiger gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen war der österreichische Physiker Wolfgang Pauli damit beschäftigt, ein fehlendes Quäntchen Energie zu finden. Auch seine Kolleg*innen in ganz Europa, die zwar die theoretischen Grundlagen für die Spaltung des Atoms kalkuliert hatten, aber deren Gleichungen nicht ganz aufgingen, suchten vergeblich danach. Immer und immer wieder fehlte in den Gleichungen, die den Prozess der Destabilisierung eines Atoms beschreiben, ein winziges bisschen Energie in den Endprodukten. Paulis Berechnungen führten ihn zu der Vorhersage, dass dabei ein neutrales Teilchen, also ein Teilchen ohne elektrische Ladung, auftauchen würde. Innerhalb weniger Jahre würde Paulis italienischer Kollege Enrico Fermi das Teilchen „Neutrino“ nennen, was in seiner Muttersprache „das kleine Neutrale“ bedeutet.

Etwas mehr als ein Jahrzehnt später, als die ersten Kernreaktionen tatsächlich beobachtet wurden, stimmte die Mathematik in den Experimenten erneut nicht ganz mit den tatsächlichen Ergebnissen überein. Exakt wie in der Theorie vorhergesagt, fehlte etwas. Die ersten Anzeichen für die Existenz der Neutrinos waren vorhanden. Seit dem Zweiten Weltkrieg und den Anfängen der Teilchenphysik als Studiengebiet wurden stetige Fortschritte bei der Erforschung dieser mysteriösen Teilchen gemacht: Wo sind sie? Wie können wir sie sehen? Wie viele Arten von Neutrinos gibt es? Wie bewegen sie sich? Womit interagieren sie? Warum spüren wir ihre Auswirkungen nicht? Haben sie Masse? Bei der Beantwortung dieser Fragen – von denen einige immer noch unbeantwortet sind – betrachten wir ein Teilchen, das uns weit mehr sagen könnte, als wir erhofft hatten: etwa den Ursprung der Materie im Universum.

Allerdings haben wir auch schon eine Menge über Neutrinos gelernt. Seit den 1950er Jahren wissen wir, dass es drei Sorten Neutrinos gibt, von denen jede einen anderen Zustand (auf Englisch „Flavour“ – „Geschmacksrichtung“) hat: eine ist mit dem Elektron verbunden, eine andere mit dem schwereren Cousin des Elektrons, dem Myon, und noch eine weitere mit dem massiven Tauon. Wenn Neutrinos mit Materie wechselwirken – was erstaunlich selten vorkommt – erzeugen sie ihre schwereren Partner. Genauso entstehen Neutrinos bei der Kernfusion und Kernspaltung und dienen uns als Fenster in die Kernwechselwirkungen.

Der erste Nachweis eines Neutrinos, 1970

Der erste Nachweis eines Neutrinos 1970 im Argonne National Laboratory in den USA. Die verwendete Blasenkammer hatte gezeigt, dass ein Wasserstoffatom plötzlich zurückspringt und sich in ein Pion und ein Myon verwandelt – das Ergebnis einer Wechselwirkung mit einem Myon-Neutrino. (Bild: Argonne National Laboratory)

Tatsächlich scheint unser nächstgelegener starker Neutrinogenerator jeden Tag auf uns herab: die Sonne. Da die Sonne wie ein gigantischer Fusionsreaktor arbeitet, regnen Unmengen von Neutrinos durch das Sonnensystem – so viele, dass in einer einzigen Sekunde Billionen von Neutrinos durch Ihre Handfläche fliegen. Neutrinos entstehen bei Kernreaktionen, weshalb Neutrino-Detektoren oft in der Nähe von Kernkraftwerken gebaut werden, wie es bei den Chooz-Experimenten in Frankreich oder dem CONUS-Experiment im Kernkraftwerk Brokdorf nahe der Elbmündung in Schleswig-Holstein der Fall ist.

„Es ist sehr schwierig die Neutrinos zu messen, nicht nur weil sie so wenig Masse haben, sondern auch und vor allem, weil sie so selten mit Materie wechselwirken“, sagt Sebastian Böser, Professor für Physik an der Johann-Gutenberg-Universität Mainz.

Das ist es, was Neutrinos so schwer aufspürbar macht: Da sie eine außergewöhnlich seltene Wechselwirkung mit Materie vollziehen müssen, um für uns sichtbar zu werden, versuchen wir mit riesigen Detektoren so viele wie möglich einzufangen und hoffen, dass etwas passiert, um es dann aufzuzeichnen. Um eine Vorstellung davon zu bekommen wie selten eine Wechselwirkung ist: Stellen Sie sich vor, Sie bräuchten einen Bleiblock, in dem auf jeden Fall eine Wechselwirkung mit einem einzelnen durch eben diesen Block fliegenden Neutrino auftreten sollte. Der Block müsste eine Länge von vier Lichtjahren haben – dies würde der Entfernung von unserer Sonne zum nächsten Sternensystem entsprechen. Neutrinos sind die Geister der Teilchenwelt.

SNOlab in Ontario in Kanada

Oft sind Neutrino-Detektoren massiv und müssen unterirdisch gebaut werden, wie im Fall von SNOlab in Ontario in Kanada. Die Forschungsarbeiten bei SNOlab trugen dazu bei, das Verständnis dafür zu vertiefen, wie Neutrinos oszillieren, eine Erkenntnis, die 2018 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. (Bild: SNOlab-Collaboration)

Um mehr über diese Geister herauszufinden, hat die deutsche Teilchenphysik eine führende Rolle bei den vier zentralen Forschungsansätzen, die sich mit ihnen befassen, übernommen. Ein Ansatz ist die Gewinnung von Informationen über ihre Massen, da die genauen Massenwerte der drei Sorten von Neutrinos unbekannt sind. Wir wissen nur, dass sie nicht Null sind. Ein anderer Forschungsbereich befasst sich mit dem Verständnis der Natur der Neutrino-„Flavour“-Zustände und der Frage, wie Neutrinos diesen Zustand während des Fluges ändern können – ein Vorgang der Oszillation genannt wird. Wieder ein anderer versucht zu verstehen, wie Neutrinos Masse erlangen, wenn sie nicht mit dem Higgs-Feld wechselwirken; und ein letzter Forschungsbereich befasst sich mit bizarren hochenergetischen kosmischen Neutrinos, die aus kosmischen Ereignissen wie der Fusion in Sternen und Supernovae strömen.

Neutrino-Detektoren müssen so empfindlich sein, dass sie oft an extremen Orten und unter extremen Bedingungen gebaut werden müssen. Das kanadische SNOlab wurde in einer alten Nickelmine gebaut. Kamiokande in Japan wurde ebenfalls in einer unterirdischen Kammer gebaut. Beide benutzten mit Flüssigkeit gefüllte Kammern und eine riesige Anzahl von Photomultiplier-Röhren, um kurze Lichtblitze zu finden, die aus Neutrino-Wechselwirkungen stammen.

Deutschland ist vor allem bei Neutrino-Experimenten mit niedrigen Energien und niedrigem Hintergrund sowie bei Projekten zum Nachweis sehr hochenergetischer astronomischer Neutrinos führend. „In Deutschland kennen wir uns aus im Bau von Detektoren für diese Art von Experimenten“, sagt Manfred Lindner, Direktor am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg, Mitvorsitzender des Gremiums zur Neutrinoforschung der International Union of Pure and Applied Physics IUPAP und selbst Forscher an mehreren Neutrino-Experimenten.

Zu den extremsten Neutrino-Laboren gehört IceCube, ein riesiger Detektor in der Antarktis für atmosphärische und hochenergetische Neutrinos und dunkle Materie. IceCube nutzt die dicke Eisschicht als gigantisches Observatorium für Neutrinos. Seine Sensoren hängen an kilometerlangen Kabeln unter der Oberfläche, um die seltenen Hinweise aufzuspüren. Und die Forscher*innen haben schon sensationelle Funde gemacht: Die Experimente von IceCube haben außergewöhnlich hochenergetische Neutrinos, die aus dem Weltraum kommen, zum Vorschein gebracht. Es ist möglich, dass sie von einem Blazar stammen, d.h. von einer Galaxie die von einem gigantischen schwarzen Loch in der Mitte langsam verschluckt wird.

Hochenergetische Neutrinos bei IceCube nachgewiesen

Im Jahr 2013 wurden bei IceCube in der Antarktis die ersten Ultrahochenergie-Neutrinos nachgewiesen. Sie stammen wahrscheinlich von enorm hochenergetischen Ereignissen wie einem Blazar aus dem tiefen Weltraum. (Bild: IceCube-Collaboration)

„Da das Universum so gigantisch groß ist und Neutrinos aus seinen tiefsten Tiefen zu uns kommen können, sind sie in Bezug auf ihren Ursprung besonders schwierig zu verfolgen – wir wüssten gern, woher sie genau kommen“, sagt Böser von der JGU Mainz, der auch bei IceCube forscht. „Selbst wenn wir die Richtung sehr gut kennen, gibt es in der Tiefe des Universums unglaublich viele mögliche Quellen.“

Man kann jedoch Informationen über die Eigenschaften der Ereignisse gewinnen, bei denen Neutrinos entstehen. Borexino zum Beispiel, ein Projekt am Forschungszentrum Gran Sasso in Mittelitalien mit starker deutscher Beteiligung, nutzt Messungen von Neutrinoenergien, um die Vorgänge im Inneren der Sonne besser zu verstehen. „Das ist sozusagen der Blick von hinten hinein in die Sonne, um zu sehen, ob unsere Sternentwicklungstheorie stimmt“, sagt Lindner. In ähnlicher Weise nutzt das CONUS-Projekt den weltweit kompaktesten Neutrinodetektor in 17 Meter Entfernung eines Reaktorkerns, um nicht nur das Verhalten der Neutrinos zu untersuchen, sondern auch, um einen besseren Einblick in die unterliegenden kernphysikalischen Prozesse zu gewinnen.

So geheimnisvoll Neutrinos auch sind, diese Experimente zeigen, dass wir tatsächlich einige Aspekte der Eigenschaften von Neutrinos verstehen. Experimente wie KATRIN in Karlsruhe befassen sich mit den Masseneigenschaften von Neutrinos. Diese Eigenschaften könnten es den Wissenschaftler*innen ermöglichen, sich ein umfassenderes Bild davon zu machen, wie sich die schwache Kraft verhält und ob es andere Möglichkeiten gibt, Masse außerhalb des Higgs-Feldes zu erlangen.

Spektrometer des KATRIN-Experiments

Das KATRIN-Experiment in Karlsruhe versucht mit einem 200-Tonnen-Spektrometer einen genaueren Wert für die Masse des Elektron-Neutrinos, einer der drei „Flavours“ der Neutrinos, einzugrenzen. (Bild: Karlsruher Institut für Technologie KIT)

Mehrere Experimente, wie z.B. GERDA auch am Gran Sasso, ebenfalls mit starker deutscher Beteiligung, versuchen herauszufinden, ob Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen sind. Die Theorie besagt, dass, wenn in der Natur eine bestimmte Art von radioaktivem Zerfall, ein so genannter neutrinoloser Doppel-Beta-Zerfall, stattfindet, dies der erste Beweis dafür sein könnte, warum etwas, was Ladungsparitätssymmetrie genannt wird, kurz nach dem Urknall zerbrach - wodurch die Materie die Antimaterie dominieren konnte.

„Wir wissen, dass Antineutrinos existieren, aber nicht genau, wie – und ob – sie sich in ihrem Verhalten von den Neutrinos unterscheiden“, sagt Böser. Bei der Untersuchung des Neutrinoverhaltens haben Wissenschaftler festgestellt, dass einige ihrer Wechselwirkungen mit der Materie dazu führen, dass Antimaterieteilchen erscheinen - zum Beispiel erzeugen Elektronen-Antineutrinos Positronen, die positiv geladenen Doppelgänger des Elektrons. Weil Neutrinos ladungsneutral sind und daher kein offizielles Antiteilchen haben, könnte es sein, dass sie aufgrund einer ihrer Eigenschaften entweder sowohl eigene als auch Eigenschaften von Antiteilchen aufweisen oder doch Antiteilchen-Versionen von sich selbst besitzen.

Das ist noch nicht alles. Es gibt sogar Hinweise dafür, dass über die drei bekannten Neutrinos hinaus weitere Neutrinos existieren. Diese so genannten sterilen Neutrinos wären nicht in der Lage, über die schwache Wechselwirkung gesehen zu werden, und würden ganz andere Methoden erfordern, um entdeckt zu werden – meist über die Inferenz ihrer Erzeugung. „Sterile Neutrinos sind die Geister von Geistern“, sagt Lindner.

Das zeigt, dass die „kleinen Neutralen“ fast ein Jahrhundert nach ihrem ursprünglichen Postulat immer noch eine ganze Reihe von Geheimnissen bergen.

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