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Physik jenseits des Standardmodells

CERN-Generaldirektor Rolf Heuer über das Potenzial des LHC, der mit deutlich höherer Energie nach neuen Teilchen sucht

femto: Rolf Heuer, Sie sind seit dem Jahr 2009 Generaldirektor des CERN und haben damit die gesamte bisherige Betriebszeit des Large Hadron Collider LHC begleitet. Was waren damals die wissenschaftlichen Erwartungen?

Heuer: Ich denke, fast jeder hatte gehofft, man findet am schnellsten Teilchen der Dunklen Materie, sprich Supersymmetrie. Das liegt daran, dass der Wirkungsquerschnitt, also die Erzeugungswahrscheinlichkeit, von Dunkler Materie relativ hoch und die Signatur relativ klar ist. Viele Leute haben gedacht, dass wir Supersymmetrie gleich morgen finden. Das war natürlich naiv, und die Natur hat sich auch anders entschieden: Die Supersymmetrie, wenn sie existiert, liegt woanders.

femto: Stattdessen kam 2012 die sensationelle Entdeckung des Higgs-Teilchens. Und danach? Was sind die Erwartungen für die nächsten Jahre?

Heuer: Die gleichen wie vor drei Jahren, sprich: Es müsste doch irgendwann einmal die Supersymmetrie oder irgendein anderer Hinweis auf Physik jenseits des Standardmodells kommen. Das Standardmodell kann ja nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Ein Vergleich: In unserem täglichen Leben haben wir im Prinzip nur mit Newton zu tun und nicht mit Einstein. (Es sei denn, wir nutzen GPS – wenn man da Einstein vergisst, landet man in der Elbe und nicht am Fischmarkt.) Newton ist insofern eine Niedergeschwindigkeitsnäherung zu Einstein. So sehe ich auch das Standardmodell: als Niederenergienäherung zu etwas, das außen drumherum ist und dieses Standardmodell als Näherung beinhaltet. Dieses Größere müssen wir irgendwann mal finden. Das ist meine Hoffnung.

femto: Und wann?

Heuer: Dazu kann ich nichts sagen. Das ist erstens abhängig von der Masse der Teilchen, zweitens von der Kopplungsstärke, wie häufig sie also erzeugt werden, und wo die neue Skala liegt. Wenn die Skala sehr weit weg liegt, kann es sein, das es nur ganz geringe Effekte gibt. Ganz wichtig sind in den nächsten Jahren sowohl die Energieerhöhung beim LHC als auch die Präzisionsmessungen, sprich: die hohe Statistik.

Heuer

Rolf Heuer, CERN-Generaldirektor. Bild: CERN

femto: Wie muss man es sich konkret vorstellen, wenn es heißt: „Wir entdecken Supersymmetrie“ – was passiert da?

Heuer: Wir finden neue Teilchen mit den Eigenschaften von supersymmetrischen Teilchen, sprich: mit den entsprechenden Zerfallsketten. In der Regel erzeugen wir nicht das Teilchen mit der geringsten Masse, sondern welche mit höherer Masse, die dann in das leichteste Teilchen zerfallen. Dieses leichteste Teilchen ist in vielen Theorien stabil, es agiert also mehr oder weniger wie ein Neutrino, indem es im Detektor nicht nachgewiesen werden kann, wir es also nicht sehen. Aber wir sehen natürlich die fehlende Energie, die dieses Teilchen mitnimmt, und den fehlenden Impuls. Und so können wir mit den Detektoren rekonstruieren, wie die Zerfallskette war, die wir dann mit der großen Matrix von supersymmetrischen Modellen abgleichen können. Und da gibt es dann eine Stelle, an der es passt.

femto: Wie viele Teilchen brauchen wir, um sagen zu können, dass wir es sicher wissen?

Heuer: Die Frage ist: Was ist sicher? Wie sicher ist man? Ich denke, wenn man ein Teilchen findet, das nicht ins Standardmodell passt, ist man sicher, dass es zur Physik außerhalb des Standardmodells gehört. Jedes fundamentale Teilchen, das neu dazukommt, ist jenseits des Standardmodells. Da bin ich absolut sicher. Ich bin nur nicht sicher, was es dann genau iist. Aber ich weiß: Jetzt habe ich ein Loch im Standardmodell gefunden.

femto: Und was ist, wenn da nichts ist?

Heuer: Dann messen wir einfach weiter, bis wir etwas finden. Wenn wir in den nächsten Jahren überhaupt nichts finden, haben wir zumindest eine Idee, wie weit entfernt die Skala ist, die neue Physik beinhalten würde. Und dann ist die Frage, ob es andere Messungen gibt, die uns weiterführen können, also Hochpräzisionsmessungen, um einen Eindruck für die Abweichung vom Standardmodell zu kriegen. Gerade, wenn man erst einmal keine neuen Teilchen findet, ist Hochpräzision das A und O, und dafür brauchen wir verschiedene Methoden.

femto: Wie geht es nach dem LHC und nach der nächsten Entdeckung weiter?

Heuer: Das hängt von der Entdeckung ab. Im Moment halten wir uns am CERN alle Türen für zukünftige Beschleuniger offen: Proton-Proton, Elektron-Positron und Elektron-Proton, kreisförmig oder linear. Die nächsten Jahre müssen zeigen, mit Resultaten vom LHC, aus der Astroteilchenphysik und von anderen Maschinen, in welche Richtung es gehen soll.

femto: In der Geschichte der Teilchenphysik hat eine Entdeckung meistens die nächste Frage gleich mit im Gepäck gehabt. Wird das hier auch so sein?

Heuer: Was ist die nächste Frage? Eine Frage kennen wir natürlich schon – was ist die Dunkle Materie? Aber die nächste Frage ist: Bei welcher Energie können wir sie entschlüsseln? Dafür müssen wir ein Gespür bekommen. Wir können nicht einfach nur sagen, dass wir den nächsten Hochenergiebeschleuniger brauchen. Aber wenn wir ein gutes Projekt haben und gemeinsam hinter so einem Projekt stehen, bekommen wir auch die Realisierung hin.

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