Eine kleine Geschichte des Universums

Seit jeher denkt der Mensch über seine Umgebung nach und versucht, ihre Geheimnisse zu ergründen. Als Kind nehmen wir mit Vorliebe Grashalme, Blätter, Käfer und Würmer unter die Lupe. Doch rasch wird die Welt größer, Fragen wie „Woher kommt Regen?“, „Wie entsteht ein Regenbogen?“ „Wieso taut Schnee, wenn es warm wird?“ tauchen auf. Später sind es Mond, Sterne, Planeten und Galaxien, die uns faszinieren und die wir verstehen wollen. Wie funktioniert das alles?

Schon früh ist der Mensch dazu übergegangen, die Naturphänomene nicht nur zu beobachten, sondern sie zu analysieren und zu systematisieren und so von der Natur zu lernen. Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler versuchen zu verstehen, wie einzelne Naturphänomene zusammenhängen, Physikerinnen und Physiker interessieren sich besonders dafür, wie unser Universum aufgebaut ist und wie es zu dem geworden ist, was es heute ist.

Das große Universum und die kleinsten Teilchen

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Der Urknall.
Grafik: DESY

Heute ist die Physik an der Schwelle zu einem völlig neuen Gesamtbild der Natur: Die Zusammenhänge zwischen der Welt im allergrößten – dem Universum – und der Welt des allerkleinsten – den Elementarteilchen – werden immer deutlicher. Um das große Universum zu erklären, benötigen wir die Physik der kleinsten Teilchen. So bestehen ferne Galaxien aus den gleichen Elementarteilchen, aus denen die Welt, die uns umgibt, aufgebaut ist. Umgekehrt gibt die Kosmologie aber auch Hinweise darauf, was die Teilchenphysiker noch nicht verstanden haben. Denn die Zusammensetzung von Phänomenen wie Dunkler Materie und Dunkler Energie, von denen wir heute wissen, dass sie große Teile des Universums ausmachen, ist bisher unklar.

Physikerinnen und Physiker beobachten die Natur und versuchen, ihre Gesetzmäßigkeiten und Regeln zu finden. Sie entwickeln mathematische Modelle, die die Natur und ihre Phänomene beschreiben. Mit diesen Modellen machen sie Vorhersagen, wie die Natur sich in bestimmten Situationen verhalten sollte. In Experimenten kann man diese Vorhersagen überprüfen und damit diese Modelle testen. Im Laufe der Zeit haben sie ihre Methoden und Geräte immer weiter verfeinert und spezialisiert.

So können sie heute Elementarteilchen mit Hilfe von Teilchenbeschleunigern zur Kollision bringen und so Zustände herstellen, wie sie kurz nach dem Urknall geherrscht haben. Im Urknall ist das Universum aus purer Energie entstanden. Als sich das Universum bildete, haben sich aus dieser Energie die Elementarteilchen gebildet. Anschließend sind diese Teilchen Bindungen zu Atomkernen und weiter zu Atomen eingegangen. In Teilchenbeschleunigern kann man diese Prozesse im frühen Universum nachbilden und so seine Entwicklung verstehen.

Ein erfolgreiches Modell mit Lücken

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Die Bausteine der Materie und die Kräfte, die sie zusammenhalten: Heute kennt man insgesamt 12 Materieteilchen, 6 Quarks und 6 Leptonen. Das Higgs-Teilchen (H) ist für die Masse der elementaren Teilchen verantwortlich. Die Teilchen auf einer „Stufe“ spüren jeweils auch die Kräfte der unteren „Stufen“. Grafik: DESY

Das grundlegende Modell der Teilchenphysik ist das so genannte Standardmodell. In ihm haben Physikerinnen und Physiker in den vergangenen Jahrzehnten die Grundbausteine des Universums und die Kräfte, die zwischen ihnen wirken, zusammengefasst. Es kommt mit nur wenigen Bestandteilen aus: den Bausteinen, aus denen die Materie in unserem Universum besteht, und den Kräften, ohne die unsere Welt in ihre winzigsten Bestandteile zerfallen würde.

Seitdem das Standardmodell formuliert wurde, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler es wieder und wieder getestet. Mit Teilchenbeschleunigern haben sie die Eigenschaften überprüft, die das Standardmodell den Bausteinen der Materie und den Kräften, die zwischen ihnen wirken, zuweist. Die Forschenden haben festgestellt, dass das Standardmodell die Entwicklung unseres Universums nach dem Urknall sehr genau beschreibt.

Aber obwohl das Standardmodell eine der erfolgreichsten naturwissenschaftlichen Theorien überhaupt ist, lässt es viele Fragen offen. Beispielsweise berücksichtigt es die Schwerkraft nicht, obwohl sie in unserem täglichen Leben eine große Rolle spielt. Daher entwickeln Physikerinnen und Physiker auf der ganzen Welt das Standardmodell weiter. Auch diese neuen Theorien müssen sich im Praxistest bewähren. Dazu müssen wir zeitlich noch näher an den Urknall rücken.

Der LHC kommt ins Spiel

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Letzte Schweißarbeiten am LHC-Ring (April 2007).
Foto: CERN

Die bisherigen Teilchenbeschleuniger reichen für diese Beobachtungen allerdings nicht aus. Es musste ein neues Untersuchungsgerät her: der Large Hadron Collider LHC, der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt. Offiziell eingeweiht im Oktober 2008, verläuft der 27 Kilometer lange ringförmige Beschleuniger in etwa 100 Metern Tiefe in der Nähe von Genf. Er gehört zum europäischen Forschungszentrum CERN. Internationale Teams aus Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern haben in den vergangenen Jahren die Hightech-Maschine und die dazu gehörigen hausgroßen Nachweisgeräte entwickelt und gebaut. Der LHC wird in völlig neue Energiebereiche vorstoßen. Wissenschaftler werden den Antworten auf Grundfragen der Menschheit einen gewaltigen Schritt näher kommen: Woraus besteht das Universum? Was geschah beim Urknall? Wo ist die Antimaterie? Woher kommt die Masse?

Mit dem LHC die fundamentalen Fragen beantworten

Alles, was wir im Universum sehen, von der Ameise bis zur Galaxie, besteht aus gewöhnlichen Teilchen. Diese gewöhnliche Materie macht allerdings nur fünf Prozent des Universums aus. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben beobachtet, dass das Universum zu 25 Prozent aus Dunkler Materie und zu 70 Prozent aus Dunkler Energie besteht. Dunkle Energie und Dunkle Materie nachzuweisen und zu untersuchen, ist jedoch sehr schwer. Am LHC suchen sie nach so genannten supersymmetrischen Teilchen. Diese könnten Bestandteil der Dunklen Materie sein.

Eine weitere drängende Frage, die am LHC untersucht werden soll, ist die nach dem Ursprung der Masse. Das Standardmodell der Teilchenphysik funktioniert nur, wenn die in ihm beschriebenen Teilchen keine Masse haben. Wir wissen aber, dass die Elementarteilchen sehr wohl eine Masse haben. Wir wissen jedoch nicht, woher die Masse kommt. Eine Antwort könnte der so genannte Higgs-Mechanismus sein, der erstmals 1964 vom britischen Physiker Peter Higgs eingeführt wurde. Das dazu notwendige Higgs-Teilchen wurde im Jahr 2012 am LHC experimentell nachgewiesen.

Zu jedem Elementarteilchen gibt es ein so genanntes Antiteilchen. Es hat genau die gleichen Eigenschaften, etwa exakt dieselbe Masse, nur ist seine Ladung entgegengesetzt. Wenn Teilchen und Antiteilchen aufeinander treffen, vernichten sie sich gegenseitig und wandeln sich dabei in Energie um. In der frühen Entstehungsphase unseres Universums entstand zunächst die gleiche Anzahl Teilchen und Antiteilchen. Demnach müssten Materie und Antimaterie einander komplett vernichtet haben. Nun bestehen aber die Sonne, die Planeten und alles andere im sichtbaren Universum aus Materie. Es muss also einen Prozess gegeben haben, bei dem etwas mehr Materie als Antimaterie erzeugt worden oder übrig geblieben ist. Mit Hilfe des LHC werden Forschende nach winzigen Unterschieden bei der Entstehung von Materie- und Antimaterieteilchen suchen, die dieses Ungleichgewicht erklären könnten.

Materie besteht aus Atomen mit einem Kern aus Protonen und Neutronen. Diese Kernbausteine wiederum bestehen aus Quarks, die von Gluonen zusammengehalten werden. Die Bindung zwischen Quarks und Gluonen ist so stark, dass man es nicht schafft, Quarks zu trennen. Unmittelbar nach dem Urknall war das anders. In den ersten Mikrosekunden war das Universum ein heißer und dichter Feuerball aus Quarks und Gluonen. Temperatur und Druck waren so hoch, dass die Quarks nicht durch Gluonen aneinander gebunden waren, sondern sich in einer Art Ursuppe frei bewegen konnten. Dieser Zustand war jedoch nur von kurzer Dauer. Das Quark-Gluon-Plasma kühlte sich ab, und es bildeten sich erste gebundene Teilchen. In der Folge entstand die normale Materie in den Verbindungen, wie wir sie kennen. Diese Teilchenbildung aus dem Quark-Gluon-Plasma hatte großen Einfluss auf die anschließende Entwicklung des Universums. Dieses Quark-Gluon-Plasma soll für Bruchteile von Sekunden am LHC erzeugt werden, um die Eigenschaften der Ursuppe zu untersuchen.

Wie funktioniert der LHC?

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So sieht es aus, wenn zwei Teilchen aufeinander prallen (hier: CMS-Detektor) .
Grafik: CERN

Um all diese Phänomene zu untersuchen, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Ingenieurinnen und Ingenieure und Technikerinnen und Techniker aus aller Welt in jahrelanger Zusammenarbeit den Beschleuniger LHC und die dazugehörigen Nachweisgeräte entwickelt und gebaut, so genannte Detektoren. Im LHC kreisen Teilchenstrahlen in zwei getrennten Strahlrohren bei beinahe Lichtgeschwindigkeit. Der eine Teilchenstrahl läuft mit, der andere gegen den Uhrzeigersinn. Die Teilchen rasen mehr als 11 000 Mal pro Sekunde durch den Beschleunigerring. Starke Magnetfelder halten die Teilchenstrahlen auf der Kreisbahn des Beschleunigers.

An vier Stellen im LHC prallen die Teilchenstrahlen aufeinander. So simulieren Forschende Zustände wie unmittelbar nach dem Urknall. Bei den Zusammenstößen entstehen enorm viele neue Teilchen, die in alle Richtungen auseinander fliegen und mit Hilfe der Nachweisgeräte vermessen werden. Aus den Spuren, die die Teilchen hinterlassen, ziehen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Rückschlüsse darauf, was bei diesen Zusammenstößen geschieht.

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