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Aus „femto", dem DESY-Forschungsmagazin
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Die große Vereinheitlichung

Nicht weniger als alles möchte die Physik am liebsten erklären können. Mit einer eleganten Theorie, die ihr gesammeltes Wissen in einem Weltmodell vereint, das zurück bis zum Ursprung des Universums reicht und auch die große Frage beantwortet, ob die uns bekannten Naturkräfte lediglich verschiedene Ausprägungen einer gewaltigen „Urkraft“ sind. Eine Beschreibung, die es sogar endlich ermöglichen könnte, die Schwerkraft mit den übrigen Kräften unter einen Hut zu bringen.

„Aber ist die Natur wirklich so einfach, dass es am Ende nur eine Kraft gibt?“, fragt der DESY-Teilchenphysikdirektor Joachim Mnich. „Diese Frage werden wir nicht so bald beantworten können. Wir könnten jedoch in den kommenden Jahren Hinweise bekommen, in welcher Richtung die Suche nach einer Antwort lohnt.“ Mnich weiß aus jahrzehntelanger Erfahrung, dass es die vielen einzelnen Schritte sind, die den langen Weg zu einer solchen „Weltformel“ so spannend machen, und von denen jeder einzelne eine Herausforderung ist.

So ist das 2012 entdeckte Higgs-Teilchen nicht nur der krönende Abschluss des überaus erfolgreichen Standardmodells der Teilchenphysik, sondern auch ein entscheidender Türöffner für neuePhysik jenseits dieses Modells. „In den kommenden Jahren werden wir die Eigenschaften des Higgs-Teilchens so präzise wie möglich vermessen“, erklärt Mnich. „Wenn wir kleinste Abweichungen von den Vorhersagen erkennen, könnte genau darin ein entscheidender Hinweis auf bislang unbekannte Physik stecken, die unser Weltbild über die bisher bestätigten Modelle hinaus erweitern würde.“

Mnich

Joachim Mnich, DESY-Teichenphysikdirektor. Bild: DESY

Dabei könnten die heiß gesuchten supersymmetrischen Teilchen ans Licht kommen – oder etwas ganz anderes. „Eine der ganz großen Fragen ist die nach der Natur der Dunklen Materie“, erläutert Minch. Denn das erfolgreiche Standardmodell der Teilchenphysik erklärt erst fünf Prozent des Universums. Das ist der Anteil, den die uns bekannte Materie stellt. Astronomische Beobachtungen haben eine weitere Materieform aufgespürt, die jedoch nicht sichtbar ist und sich bislang nur durch ihre Schwerkraft verrät. Diese Dunkle Materie ist über fünfmal häufiger als die uns gewohnte Materie, ihre Natur ist jedoch völlig rätselhaft. Viele Physiker hofien, dass der Superbeschleuniger LHC Kandidaten für die Dunkle Materie aufspürt.

„Aber wir wissen noch nicht einmal, ob es sich bei der Dunklen Materie überhaupt um Teilchen handelt“, sagt Mnich. „Wir wissen, dass die Dunkle Materie über die Schwerkraft mit anderer Materie wechselwirkt. Wir hoffen, dass sie auch die schwache Wechselwirkung besitzt, die in der Natur unter anderem für radioaktive Zerfälle verantwortlich ist. Sonst wird es sehr schwer, Teilchen der Dunklen Materie in einem Beschleuniger zu finden.“ Tatsächlich kommen auch supersymmetrische Teilchen als Kandidaten für die Dunkle Materie in Frage.

Es ist eine spannende Herausforderung, immer wieder die Grenzen unserer Wahrnehmung und Vorstellungskraft zu erweitern

Doch selbst wenn die Physik einen Hinweis auf die Natur der Dunklen Materie finden sollte, lässt sich damit noch immer nicht der Kosmos erschöpfend erklären. Denn mehr als zwei Drittel des Inhalts unseres Universums stellt eine mysteriöse Dunkle Energie, die den Raum selbst auseinanderzutreiben scheint, wie astronomische Beobachtungen gezeigt haben. Den Forschern fehlt bislang jedes Indiz, worum es sich dabei handeln könnte. Konkreter sieht die Fahndung nach den Ursachen der überraschenden Asymmetrie von Materie und Antimaterie aus. Im Urknall muss eigentlich ebenso viel Materie wie Antimaterie entstanden sein. Doch von der Antimaterie findet sich heute im Universum so gut wie keine Spur. „Viele Experimente weltweit suchen nach der Ursache für diese Asymmetrie“, erläutert Mnich. „DESY beteiligt sich zum Beispiel stark am Experiment Belle II in Japan.“ Der dortige Ringbeschleuniger KEKB wird zu einer „Fabrik“für sogenannte B-Mesonen umgebaut, an denen sich die Asymmetrie besonders gut studieren lässt. Die Grundlagen für solche B-Fabriken wurden unter anderem bei DESY am DORIS-Speicherring gelegt, an dem Forscher 1987 mit Hilfe des ARGUS-Detektors zum ersten Mal die Umwandlung eines B-Mesons in sein Antiteilchen, ein Anti-B-Meson, beobachteten.

„Die Experimente zur Antimaterie sind sehr spannend“, sagt Mnich. „Am CERN ist es beispielsweise gelungen, Antiwasserstoff herzustellen – also ein Antiproton, das von einem Positron umkreist wird. Damit zu experimentieren ist hochinteressant! Zum Beispiel hat noch niemand exakt gemessen, wie sich Antimaterie in der Schwerkraft verhält. Fällt Antiwasserstoff vielleicht nach oben? Es ist eine spannende Herausforderung, immer wieder die Grenzen unserer Wahrnehmung und Vorstellungskraft zu erweitern!“

Klar ist: Auch die nächsten Schritte zur „Weltformel“ sind eine globale Herausforderung. „In der Teilchenphysik hat internationale Zusammenarbeit eine lange Tradition“, sagt Mnich. „DESY arbeitet maßgeblich an verschiedenen Großprojekten mit, die nach SUSY-Teilchen und anderen Kandidaten für die Dunkle Materie fahnden. Ein wichtiger Schwerpunkt sind natürlich die Experimente am LHC, aber beispielsweise auch die Astroteilchenphysik.“

Eine besondere DESY-Stärke liegt nach wie vor in der Analyse der Protonstruktur, deren genaue Kenntnis für die weitere Higgs-Forschung am LHC von entscheidender Bedeutung ist. Denn in dem Beschleuniger stoßen Protonen auf Protonen und aus den Kollisionen ergibt sich erst dann ein klares Bild, wenn im Detail bekannt ist, was da eigentlich aufeinanderprallt. Nirgends ist das Innere des Protons genauer untersucht worden als am DESYBeschleuniger HERA.

Doch experimentieren allein reicht nicht. „Wir müssen die Experimente auch verstehen“, betont Mnich. „Dafür ist die Theorie unverzichtbar. Wichtig ist dabei, die Resultate von Beschleunigerexperimenten und astronomischen Beobachtungen zusammenzuführen. Bei DESY haben wir eine außerordentlich starke Theoriegruppe von Weltruf, die übrigens auch ein einzigartiges Umfeld für Nachwuchswissenschaftler bietet.“

Und wie geht es weiter in den nächsten Jahren? „Wie die Welt der Teilchenphysik in fünf Jahren aussieht, ist heute schwer zu sagen“, erklärt Mnich, der auch neuer Vorsitzender des International Committee for Future Accelerators (ICFA) ist. „Das Potenzial des LHC mit fast verdoppelter Energie ist einzigartig. Aber um beispielsweise das Higgs wirklich zu verstehen, brauchen wir auch einen Elektron-Positron-Beschleuniger, eine Art Higgs-Fabrik, die umfangreiche Präzisionsmessungen erst möglich macht. DESY hat eine enorme Kompetenz in der beschleunigerbasierten Teilchenphysik und wird maßgeblich mit dabei sein. Ich bin gespannt!“

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