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02.09.2020

Spurenkammer "made in Germany":
Der ALICE-Detektor wird durch neue Technologie viel leistungsfähiger

Physiker*innen beim Detektorbau

Die Crew aus Deutschland (Robert Münzer (Uni Frankfurt), Chilo Garabatos (GSI), Lars Bratrud (Uni Frankfurt), Yiota Chatzidaki (Uni Heidelberg), Christian Lippmann (GSI)) präsentiert stolz das neue Herzstück des ALICE-Detektors. Bild: Robert Münzer, Uni Frankfurt.

Im Moment ruhen am CERN die Beschleuniger, es ist die Zeit der „zweiten langen Betriebspause“ (oder LS2 für Long Shutdown 2). Doch auch wenn gerade keine Teilchen miteinander kollidieren, passiert doch so einiges – auch unter Corona-Bedingungen. Die Beschleuniger werden auf- und umgerüstet, so dass die Teilchenintensität und die Kollisionen erhöht werden können. Auch an den Detektoren wird geschraubt und verbessert. Doch während bei den großen Allzweckdetektoren ATLAS und CMS der große Umbau erst in der nächsten, dritten langen Betriebspause ansteht, wird der Spezialdetektor ALICE schon erneuert aus diesem Shutdown hervorgehen.

ALICE ist ein besonderes Projekt in den Forschungsabenteuern rund um den Large Hadron Collider LHC. Während die anderen drei Detektoren entschlüsseln, was in Kollisionen zwischen Protonen vor sich geht, befassen sich die Forscherinnen und Forscher des ALICE-Experiments mit Blei-Ionen, also Teilchen, die um ein Vielfaches schwerer sind. Jedes Jahr wird der LHC einen Monat lang mit Blei-Ionen betrieben, damit der ALICE-Detektor die Daten sammeln kann, die uns an wenige Millionstel Sekunden nach dem Urknall heranbringen. Die Forscherinnen und Forscher wollen einen besonderen Materie-Zustand untersuchen: das Quark-Gluon-Plasma. In dieser heißen und dichten Ursuppe können sich die Quarks und Gluonen, die sonst fest in den Protonen und Neutronen gebunden sind, quasi frei bewegen. Was bei den Kollisionen passiert, kann Rückschlüsse darauf zulassen, wie sich aus dem Quark-Gluon-Plasma unser Universum, wie wir es heute kennen, gebildet hat.

Für ALICE geht es nämlich nach der Betriebspause mit Karacho weiter: statt den bisherigen 10 000 Kollisionen pro Sekunde soll der LHC dann 50 000 Kollisionen pro Sekunde von Blei-Ionen liefern. Bisher war der ALICE-Detektor nur in der Lage, einen Bruchteil davon auszulesen ( immerhin entstanden bisher bis zu 18000 Teilchen pro Kollision, also potenziell 180 Millionen Teilchen pro Sekunde!). Während der Betriebspause werden die technologischen Hürden, die die Zahl der ausgelesenen Kollisionen bisher limitiert haben, ausgeräumt. „Wir wollen alle Kollisionen komplett aufnehmen, und zwar kontinuierlich – also praktisch einen Film drehen, statt einzelne Bilder zu schießen“, erklärt Harald Appelshäuser, Professor am Institut für Kernphysik an der Goethe-Universität Frankfurt und Projektleiter des Teildetektors, der nach dem Umbau für den großen Unterschied sorgen wird.

Detektor im Umbau

Der ALICE-Detektor wird während der momentanen Betriebspause um ein Vielfaches leistungsfähiger gemacht. Bild: CERN

Dafür wurde einer der zentralen Detektoren des 26 Meter langen und 16 Meter hohen ALICE-Detektors, die Spurendriftkammer oder TPC (Time Projection Chamber), ganz am Anfang der Betriebspause ausgebaut und vorsichtig aus der unterirdischen Detektorkaverne in einen Reinraum an der Oberfläche gebracht. Nach und nach wurden dort die über Jahre auf der ganzen Welt hergestellten Bauteile sorgfältig eingebaut. Jetzt wurde die nagelneue TPC wieder an ihre Heimat im Herzen von ALICE zurückgebracht.

Der Clou sind die neuen Auslesekammern, die nicht mehr aus vielen feinen Drähten bestehen, sondern im Prinzip aus rund fünf Milliarden winzigen Löchern. In diesen Löchern werden die Signale der geladenen Teilchen verstärkt, so dass die Wissenschaftler*innen genau die Spur jedes Teilchens ausrechnen können. Diese Kammern nennen sich „GEMs“ – Gas Electron Multiplier – und sind eine CERN-Erfindung, die auch schon ihren Weg in medizinische Anwendungen gefunden hat. 500 000 Kanäle sorgen dafür, dass dem ALICE-Experiment nichts durch die Lappen geht. Jede Sekunde entstehen später bei den Kollisionen Daten von 3,4 Terabyte. Dafür mussten auch neue Verfahren entwickelt werden, mit denen diese Flut an Daten prozessiert werden kann. „Wir haben da jetzt das Feinste vom Feinsten und freuen uns auf die ersten Kollisionen“, so Appelshäuser.

Die neuen GEM-Auslesekammern wurden in Deutschland (an den Unis Frankfurt, Heidelberg, Bonn, der TU München und der Gesellschaft für Schwerionenforschung GSI) durch Tests und Weiterentwicklungen für das ALICE-Experiment maßgeschneidert und später in verschiedenen Ländern zusammengebaut wurden, darunter neben Deutschland auch Ungarn, Finnland, Rumänien und die USA. „Die Logistik war ganz schön kompliziert“, erzählt der Projektverantwortliche Appelshäuser. „Die TPC wurde im Jahr 2019 in den Reinraum gebracht, dort haben wir dann die altern Kammer aus- und die neuen Kammern eingebaut und getestet. Zum Glück waren wir gerade fertig, bevor die Pandemie begann.“

ALICE bekommt während der Betriebspause auch eine neue innere Spurkammer, die noch dichter am Kollisionspunkt sitzt und im Gegensatz zu ihrem Vorgänger die Präzision noch weiter erhöht. Und präzise müssen die Detektoren sein, denn nur durch die genaue Bestimmung der Teilchenpfade und -energien lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die ersten Bruchteile von Sekunden des Universums.


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